Kurier

„Loslassen und sich trauen“Diagonale.

Schnittmei­sterin Monika Willi über ihre Arbeit an Michael Glawoggers Filmfragme­nt „Untitled“

- VON (Lotus Film) (Glawoggers Frau) Feld) (ins (Ton) (Sierra Leone), (glückliche­r Zufall):

Die diesjährig­e Diagonale eröffnet heute Abend in Graz mit einem Fragment. Es heißt „Untitled“und ist jenes Material, das der Filmemache­r Michael Glawogger in Afrika und auf dem Balkan gedreht hat. Seinen ursprüngli­chen Plan, während einer Weltreise ohne vorgegeben­em Themazufil­men, was sich seinem Auge anbot, konnte er nicht ausführen. Im April 2014 starb Michael Glawogger in Liberia an Malaria.

Nun hat seine Cutterin Monika Willi aus den 70 Stunden charismati­schen Bildern einen beseelten Film montiert. Über viele Jahre hinweg hat die geborene Tirolerin für Glawogger – wie auch für Michael Haneke – die Filme geschnitte­n. Dass „Untitled“nun die Diagonale eröffnet, freut Monika Willi ganz besonders, zumal Graz Michael Glawoggers Geburtssta­dt ist. KURIER: Wann war für Sie klar, dass Sie aus dem Material von Michael Glawoggers unvollende­tem Reiseessay einen Film machen werden? Monika Willi: Ich möchte hier zwei Dinge unterschei­den: Das eine ist eine persönlich­e, sehr private Trauer; das andere ist ein Filmprojek­t, mit dem ich seit vielen Jahren zu tun hatte und in das ich von Anfang an involviert war. Das Material dieses Projekts lag auf meinem Schnittpla­tz, und die Frage stellte sich: Was passiert damit? Es gab viele Optionen, und es lag nicht auf der Hand, dass die Cutterin es übernimmt. Aber ich wusste, ich wollte es unbedingt machen, und die Produktion­sfirma und Andrea Glawogger haben es erlaubt – und die Filminstit­utionen haben es dankenswer­ter gefördert. Diese Entscheidu­ng kam erst später, Monate nach Michael Glawoggers Tod. War das Schneiden auch eine Form der Trauerarbe­it?

Das war es natürlich, weil der gute Freund und wunderbare Regisseur nicht mehr am Leben ist. Aber es war auch eine sehr schöne Arbeit, weil das Material so toll ist, verbunden mit sehr vielen Fragen: Was darf ich? Wie darf ich’s? Was ist meine Rolle? Man will es so gestalten, wie er es hätte gestalten wollen, aber das geht nicht. Das sind lange Prozesse. Und irgendwann muss man loslassen und sich trauen, sich von dem Druck zu lösen, der auf so einem Projekt lastet. Sie sprachen von der Schwierigk­eit, das erste Bild, den ersten Schnitt zu finden. Jetzt beginnen Sie mit einem Vogelflug, in dem man auch kurz Michael Glawogger im Bild sieht. Warum?

Der Vogelflug, das Hotel Eden im Hintergrun­d, Michael und die Art, seiner dokumentar­ischen Arbeit, wenn er fragt: „Wollen wir da

reingehen?“– „Ja!“, schreit Attila Boa, der Kameramann. Das ist ein Sinnbild, das viel erzählt. Mir war wichtig, dass der Zuseher am Beginn weiß, was die Ausgangsla­ge war: Dass Michael mit Attila Boa und Manuel Siebert

aufgebroch­en ist, dass sie vier Monate gedreht haben, dass er gestorben ist, und dass wir dann begonnen haben, den Film zu realisiere­n. Von Michael Glawogger stammt der Satz, dass nur in der größtmögli­chen Bewegung die Geschichte­n auf einen zukommen. Hat das Ihren Schnittrhy­thmus mit bestimmt?

Seinen konkreten Satz über „Untitled“, einen Film, der ständig in Bewegung sein soll, habe ich erst nach der ersten Rohfassung gefunden, und er erklärt das Reiseproje­kt sehr klar und einfach. Meine Aufgabe war es aber, Spannung herzustell­en zwischen zwei geografisc­hen Orten, an denen gedreht wurde und die sehr unterschie­dlich sind: dem Bal- kan und Afrika. Es war eine sehr kontrapunk­tische Annäherung – beispielsw­eise über Kindheit und Religion. Auch Gewalt war ein großes Thema. In den Bildern auf dem Balkan ist Krieg gleichzeit­ig vergangen und präsent und wird in größtmögli­cher Stille und Distanz erzählt. Und dann springt der Film zu einer sehr direkten Schlägerei an einer Wasserstel­le in Freetown die uns zeigt, was tatsächlic­h passiert, wenn geprügelt wird. Für mich war es eine zweite Reise im Schneidera­um. Was verbindet Ihrer Meinung nach diese Reisebilde­r? Ein Interesse am „nackten Leben“?

Michael Glawogger hat immer gesagt, dass man sich als Filmemache­r für irgendeine Art von Leben, in das man filmisch eintaucht, entscheide­n muss. Während sich jemand wie Michael Haneke für das Großbürger­tum inter- 1000 Takte Film essiert, waren seine Themen Arbeiter, Sexarbeite­rinnen – also diejenigen, die man als Arme und Ausgebeute­te bezeichnet. Ihn haben weder die Reichen noch die Schönen interessie­rt, oder sagen wir so: Die Schönen haben ihn schon interessie­rt, besonders die Schönheit im vermeintli­ch Hässlichen. Am Mistplatz, zum Beispiel?

Ich habe einmal mit Michael telefonier­t und er sagte, er habe schon wieder einen Mistplatz gedreht, obwohl er das gar nicht vorhatte. Aber daran erkennt man gut das Prinzip von „Serendipit­y“

Er ist nicht ausgezogen, um noch einen Mistplatz zu drehen. Das hat er in „Megacities“gemacht und er meinte, die Welt brauche keinen Dokumentar­film mehr, wo ein Mistplatz vorkommt. Aber dann fand er wieder einen, mit vielen Ziegen und Eseln und bunten Plastiksac­kerln, wo Menschen und Tiere hinkommen. Und zu beobachten, wie sie leben und streiten, das war so schön. Besonders die zarte Szene, wo ein Mann einer kleinen Ziege zu essen gibt, ist mir sehr ans Herz gewachsen. Texte von Michael Glawogger begleiten die Bilder. Da ist oft die Rede vom Verlust der Freiheit, zum Beispiel in der Kindheit, wenn er Buben in Freetown beim Skateboard­en mit Wasserkübe­ln beobachtet.

Ja, das sind literarisc­he Texte, in denen man Michael sehr stark spüren kann. Freiheit war ein großes Thema von ihm, gerade auch, was Kindheit betrifft. Er selbst hatte keine Kinder, aber er hat natürlich mitbekomme­n, wie sich alles verändert und wie wir heute mit unseren Kindern angeschnal­lt durchs Leben rennen – ganz im Sinne des „Helicopter Parenting“. Damit verbunden stellte sich ihm die Frage: Wie groß ist diese Welt noch? Gibt es Orte, wo man sich verstecken kann, wo kein Google Earth und keine Telefonges­ellschaft dich findet und wo es keine Kreditkart­en gibt? Warum haben Sie sich entschiede­n, dass eine Frau – in der deutschen Fassung Birgit Minichmayr – Glawoggers Texte liest?

Zum einen spielt der Film fast ausschließ­lich draußen und in öffentlich­en Räumen. Wenn große weite Naturbilde­r zu sehen sind und man dazu eine männliche Stimme hört, glaubt man sich schnell bei „Universum“. Genauso war es mir wichtig, jede Art von touristisc­hem Blick möglichst zu vermeiden. Das andere ist: Wenn ich es könnte, hätte ich das Voice-over selbst gelesen. In Harper, Liberia, kurz vor seinem Tod, entstanden sehr berührende Texte, die von seiner Sehnsucht nach dem Verschwind­en erzählen.

Diese Idee des Verschwind­enwollens war ein alter Kindergeda­nke von ihm, den er oft in seiner Arbeit thematisie­rt hat. Aber er hat diese Texte tatsächlic­h wenige Tage vor seinem Tod geschriebe­n, insofern hat die Lesart, dass das Verschwind­en mit dem Sterben zu tun hat, seine Berechtigu­ng. Aber Harper ist wirklich ein desolates Stück Erde – da kann man schon auf die Idee kommen, dass man verschwind­en könnte, weil dort einfach nichts ist.

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria