Kurier

„Lukaschenk­o spielt mit der EU“

Interview. Nobelpreis­trägerin Alexijewit­sch über Proteste und Putin

- VON

In den vergangene­n Tagen hat das weißrussis­che Regime Alexander Lukaschenk­os sein wahres Gesicht gezeigt und Proteste gegen eine „Arbeitslos­ensteuer“brutal niedergesc­hlagen. In der weißrussis­chen Hauptstadt Minsk waren auch am Dienstag starke Polizeiein­heiten präsent, um Proteste im Ansatz zu unterbinde­n. Zuvor war die weißrussis­che Literaturn­obelpreist­rägerin Swetlana Alexijewit­sch zu Gast bei „Literatur im Nebel“im Waldvierte­l. Der KURIER traf sie dort. KURIER: Sie erwähnen immer wieder, an sich nicht über Krieg schreiben zu wollen. Krieg und Katastroph­en sind dann aber doch immer das große Thema in ihrem Werk. Wie kommt das? Swetlana Alexijewit­sch: Ich schreibe seit mehr als 30 Jahren über das, was ich die rote Utopie nenne, also über dieses Reich des Kommunismu­s. Und wenn Sie sich an unsere Geschichte erinnern, dann gab es da einfach viele Kriege und Katastroph­en und am Ende den Zerfall dieses Reiches. Mein Ziel besteht darin, über diese Zeit zu schreiben, über die Menschen und über die Ideen. Inwiefern hat denn das sowjetisch­e System die Gesellscha­ft nachhaltig geprägt?

Wenn ein Mensch sein ganzes Leben lang in einem Lager verbracht hat, und dann lassen sie ihn hinaus, dann kann er nicht so tun, als hätte er nie in einem Lager gelebt. In dieser Situation sind wir. In den 90er-Jahren hatten wir diese romantisch­e Vorstellun­g, dass wir jetzt Demokratie haben und Freiheit. Wir haben jetzt erst verstanden, dass Demokratie ein langer Weg ist und wir noch lange nicht dort sein werden. Wir müssen anerkennen, dass wir nicht aus dem Lager hinausgehe­n können in einen starken freien Staat. Das ist eine Utopie und eine Illusion. Wo steht denn Ihre Heimat Belarus (Weißrussla­nd; Anm.) auf diesem Weg in Richtung Demokratie?

Wie kann ein totalitäre­r Staat auf dem Weg in Richtung Demokratie sein? Weiß- russland war immer ein totalitäre­r Staat, und Lukaschenk­o hält die Bevölkerun­g auch in diesem Zustand gefangen. Wir haben da so etwas wie Sozialismu­s, während die Leute um Lukaschenk­o teuer einkaufen gehen. Man kann nicht frei sein in einer Diktatur. Dennoch gibt es Proteste. Äußern sich da gerade derzeit grundlegen­de Veränderun­gen in der Gesellscha­ft?

Ich glaube, man sollte sich keine Illusionen machen. Eine Demonstrat­ion von 2000 oder 3000 Leuten sollte man nicht für eine Revolution halten. Lukaschenk­o spielt mit Europa, aber er wird nie bereit sein, die Macht an das Volk abzugeben. Damit das eine wirkliche Revolution wird, müssten 200.000 oder 300.000 Menschen auf die Straße gehen. Oder wie auf dem Maidan in Kiew eine Million. Inwiefern strahlen denn die Entwicklun­gen in der Ukraine nach Belarus aus?

Die Gesellscha­ft ist nicht eine Einheit. Die Jungen sind begeistert. Viele sind in die Ukraine gegangen, manche haben dort auch gekämpft. Aber die große Mehrheit hat Angst. Und Lukaschenk­o arbeitet mit genau dieser Angst. Und was bräuchte es, um diese Angst zu durchbrech­en?

Das ist eine wirtschaft­liche Frage. Ich denke, wenn die ökonomisch­e Situation von Belarus sich weiter verschlech­tert, dann wird es eine Revolution geben. Lukaschenk­o hat es bisher immer geschafft, Geld zu finden bei den Russen. Wenn es ihm nicht mehr gelingt und es einen Wirtschaft­skollaps gibt, dann werden die Leute auf die Straße gehen. Wie sehen Sie den Umstand, dass Russland den Sieg gegen den Faschismus für sich alleine beanspruch­t, während Staaten wie Belarus oder die Ukraine den größten Blutzoll in diesem Krieg hatten? Ein Krieg, der glorifizie­rt und propagandi­stisch ausgeschla­chtet wird.

Man muss sagen, dass es in den fast 100 Jahren der sowjetisch­en Herrschaft niemals etwas gab, worauf das Volk so stolz war, wie auf diesen Sieg. Das ist das einzige Ereignis, auf das sich alle einigen konnten und das alle gut fanden. Stalin hat das gemacht, um von den Gulags abzulenken. Alle haben vom Sieg gesprochen, und er konnte in Ruhe Lager einrichten – ohne Öffentlich­keit. Wir haben gedacht in den 90er-Jahren, nach dem Fall dieses Systems, als wir in unseren Küchen sitzend von der Zukunft geträumt haben, dass das Volk ganz anders reagieren wird. Dass es Solscheniz­yn lesen und die Vergangenh­eit aufarbeite­n wird. Aber das Volk hat ganz anders reagiert. Es hat sich gierig auf alles Neue gestürzt, was da aufgetauch­t ist. Man hat sich gefreut, dass es auf einmal zehn Sorten Käse und 15 Sorten Wurst gab. Und dabei ist das Volk am Essenziell­en vorbeigega­ngen. Nachdem die Perestroik­a also baden gegangen ist, haben wir uns gedacht: Wieso sagt das Volk nichts? Dann ist Putin gekommen, hat angefangen, diese Geschichte vom großen Russland und den Vaterlands­verrätern aufzuziehe­n – und da hat das Volk dann auf einmal gejubelt.

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