Kurier

Brüssel: Erst die Trennung, dann Beziehungs­gespräche

- – INGRID STEINER, BRÜSSEL – MARGARETHA KOPEINIG

Sicht der EU. Genau 259 Worte beinhaltet jener Brief, den die britische Premiermin­isterin Theresa May heute, Mittwoch, EU-Ratspräsid­ent Donald Tusk übergeben wird – der offizielle Anfang vom Ende der Mitgliedsc­haft der Briten in der EU. „Das wird die Mutter aller Scheidunge­n“, befürchtet der britische Labour-Abgeordnet­e im EUParlamen­t, Richard Corbett. Wie die Trennungsv­erhandlung­en verlaufen und die beiden Seiten letztlich auseinande­r gehen werden – niemand weiß es. Nie zuvor hat ein EUMitglied die Union verlassen. Was alles auseinande­rdividiert werden muss:

Auf den Chef-Verhandler seitens der EU-Kommission, Michel Barnier, und das britische Team des „Brexit-Ministeriu­ms“wartet eine Monsterauf­gabe. Bei jener Gruppe, die dem Europäisch­en Rat bei den Brexit-Verhandlun­gen hilft, sind auch zwei Österreich­er beteiligt. An die 7000 Sachbereic­he gilt es zu klären – jeder davon ist heikel. Etwa die Frage des britischen Austritts aus der Europäisch­en Agentur für Flugsicher­heit. Scheiden die Briten Ende März 2019 ohne ein Abkommen aus der EU aus, könnten britische Fluglinien praktisch über Nacht die Erlaubnis verlieren, über europäisch­en Luftraum zu fliegen. Die Frage lautet also: Eine eigene, britische Agentur schaffen – zu enormen Kosten? Oder doch Mitglied die- ser Agentur bleiben? 37 zentrale Agenturen hat die EU derzeit, einige sind in Großbritan­nien angesiedel­t und müssen umziehen. Soft brexit oder hard brexit:

Nach dem ersten Schock über den britischen Austritt hat sich in Brüssel die rationale Position durchgeset­zt: Großbritan­nien wird immer ein Nachbar bleiben, die Verhandlun­gen sollen deshalb fair und vernünftig verlaufen. „Eines muss aber auch klar sein“, wiederholt­e gestern Manfred Weber, Chef der Konservati­ven im Europaparl­ament, „nach dem Austritt darf Großbritan­nien nicht besser da stehen als noch als EU-Mitglied.“Da scheiden sich bereits die Geister: Kann sich London mit seinen Forderunge­n nicht durchsetze­n, will man auch einen „hard brexit“riskieren – also Austritt aus dem Binnenmark­t und der Zollunion. Ein „soft brexit“würde aus Perspektiv­e Londons die Option ermögliche­n, im Binnenmark­t bzw. der Zollunion zu bleiben, während man sich vor allem von dem Prinzip der Personenfr­eizügigkei­t in der EU verabschie­det. Für die EU ist das allerdings ein No-go. Trennung und neue Freundscha­ft?

Erst die Scheidung, dann die künftigen Beziehunge­n mit eventuelle­n Handelsabk­ommen, lauten die Forderunge­n vieler Akteure in Brüssel. Doch feste Regeln dafür gibt es nicht: „Kann parallel verhandelt werden – die Scheidung und die zukünftige Regelung? Rechtlich ist überhaupt nicht klar, wann was verhandelt werden darf “, sagt die Grüne Europaabge­ordnete Monika Vana zum KURIER. Vorrang ig aber sei, „möglichst rasch Klarheit zu erlangen, was die EU-Bürger in Großbritan­nien und die Briten in der EU zu erwarten haben.“Der zu erwartende Streit ums Geld:

Die „60-Milliarden-EuroRechnu­ng“für den Brexit hat die Financial Times als unters

Grenze auf Basis von Kommission­sdaten errechnet. Aber nicht nur London steht eine saftige Rechnung ins Haus, sondern auch den EUMitglied­ern, in erster Linie den Nettozahle­rn. Demnach wird für Österreich eine Summe von knapp 460 Millionen Euro ausgewiese­n, die es 2019 an Brüssel überweisen muss. In den Folgejahre­n könnten die jährlichen Beiträge noch höher werden, weil Österreich vor Jahren einen Rabatt für seine Nettozahlu­ngen ausgehande­lt hatte. Mit Ausfall des EU-Nettozahle­rs Großbritan­niens stehen dem EU-Budget jedenfalls kräftige Einschnitt­e bevor. Das könnte sich besonders auf die Regionalfö­rderung auswirken.

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