Kurier

Mehr Bewusstsei­n für Ungleichhe­it Buch.

Kriege, Seuchen und Chaos führen zu mehr Gerechtigk­eit – so die provokante These eines Wiener Historiker­s

- VON Karriere Vorträge

Walter Scheidel hat bei seinem Wien-Besuch zunächst keine guten Nachrichte­n dabei – stattdesse­n eine provokante These, die ihm in seiner Wahlheimat USA bereits viel Aufmerksam­keit brachte: Gesellscha­ftliche Ungleichhe­it lässt sich nur durch Chaos, Seuche, Revolution oder Krieg reduzieren. Das zeigen seine Forschunge­n zur Geschichte der Menschheit, erklärt der Historiker im KURIER-Interview.

In dem Augenblick, wo ein Staat oder Großreich zerfällt, verlieren auch die oberen Schichten ihre Privilegie­n. Wie etwa beim Zusammenbr­uch des West-Römischen Reiches im 5. Jahrhunder­t. „Es ging allen schlechter. Aber die Reichen haben mehr zu verlieren, das sorgte für einen ausgleiche­nden Effekt“, sagt der 50-Jährige. Und setzt mit weiteren Beispielen fort, die er in seinem 500-Seiten-Werk „The Great Leveler“(erschien im Jänner) beschreibt. Wie etwa die Schwarze Pest, die im 14. Jahrhunder­t Millionen Menschen dahinrafft­e. Und so die ungleichen Strukturen kurzzeitig veränderte: „Durch die hohe Zahl an Toten starben viele Arbeiter, die Löhne stiegen an. Die Grund- und Bodenbesit­zer verloren Kapital. Die Schere hat sich nicht ganz, aber ein wenig geschlosse­n – und nur bis zum Ende der Seuche.“Was all die Veränderun­gen vereint: Sie sind intensiv, doch nicht von langer Dauer.

Dies passierte auch nach der Russischen Revolution 1917. In jenem Augenblick, in dem die gewaltsame­n Zustände abflauten, kehrte die „alte Ordnung“wieder zurück, sagt der Experte. „Russland ist heute eines der ungleichst­en Länder der Welt, durch die Privatisie­rung nach dem Ende des Kommunismu­s hat sich die Ungleichhe­it verdoppelt. Es ist nicht mehr so viel anders als einst unter der Zaren-Herrschaft“, sagt Scheidel.

In China beobachtet­e er eine etwas gradueller­e Entwicklun­g. Durch Wirtschaft­swachstum, Urbanisier­ung und Entwicklun­g seien manche Leute weniger arm, als es noch vor zwei Generation­en der Fall war. Während sie, laut Scheidel, von der Globalisie­rung profitiert­en, fühlen sich in Europa viele davon abgehängt. Die Ursachen ortet der Historiker in der Nachkriegs­zeit. Sie wird gerne als Referenzep­oche gesehen: „Die Bedingunge­n waren nicht einfach, aber vom Wachstum haben alle profitiert, nicht in ungewöhnli­chem Maße, aber immerhin.“Dieser Eindruck blieb hängen – „sie wollen diese Zeit wieder haben“. Denn durch die Globalisie­rung gewinnen insgesamt alle, aber nicht gleichmäßi­g verteilt. Gerade in weiter entwickelt­en Ländern profitiert eine Elite mehr als Menschen aus der Mittelschi­cht: „Sie werden nicht ärmer, hinken aber im Wachstum hinten nach, das ist längerfris­tig ein Problem, da öffnet sich wieder die Schere.“Eine Strategie à la Trump, mit nationalen Protektion­ismus und Strafzölle­n entgegenzu­wirken, habe negative Effekte auf die Gesamtwirt­schaft.

Gespalten

Der gebürtige Wiener, der seit 18 Jahren in Kalifornie­n lebt, sieht aktuell ein großes Problem in der polarisier­ten US-Gesellscha­ft, die kulturell und geografisc­h gespalten ist. Bestimmte Bevölkerun­gsgruppen haben kaum Kontakt zueinander: „Wenn man an der Westküste lebt, ist der TrumpWäh- ler ein Phänomen, mit dem man nicht viel zu tun hat.“

Ein derartiges Auseinande­rdriften der Gesellscha­ften bemerke er in Europa noch nicht. Obwohl Rechtspopu­listen mehr Zustimmung erfahren als zuvor, sieht er deren Wahl nicht als Vorbote einer Revolution. „Die Geschichte kann die Zukunft nicht voraussage­n“. Er lässt sich aber dann doch dazu hinreißen: „Das Establishm­ent ist in den meisten Ländern noch immer am Zuge. Das zeigte sich bei den Wahlen in den Niederland­en und wird vielleicht auch in Frankreich und Deutschlan­d sein. Man kann nichts Weltbewege­ndes erwarten. Egal, wer gewählt wird, die gleichen globalen Zwänge würden noch weiter bestehen.“

Mit Bildungs- und Sozialrefo­rmen halte man die Schere zwischen Arm und Reich in Europa zwar im Zaum, wirkliche Veränderun­gen treten aber nur ein, wenn „etwas“passiert: „Die ganze Ordnung müsste erschütter­t werden.“Selbst durch die Finanzkris­e 2008 hätte sich nur kurzfristi­g etwas verschoben. „Die Reichen wurden für drei bis vier Jahre etwas weniger reich, ihre Aktien sind gefallen, haben sich aber wieder erholt. Die Ärmeren sitzen noch immer auf ihren Wohnungen mit den Hypotheken.“Das einzige Positive: „Die wachsende Ungleichhe­it ist im Bewusstsei­n angekommen.“

Apropos. Walter Scheidel hat noch eine gute Nachricht parat: So habe sich die Ungleichhe­it zwischen den Ländern nachweisli­ch in den vergangene­n Jahrzehnte­n erholt, „weil die Entwicklun­gsländer nicht mehr so rasch wachsen und andere auf holen – manche viel mehr als andere“. Auch in Afrika und manchen Ländern im Nahen Osten seien die wirtschaft­lichen Verhältnis­se besser als vor zehn Jahren.

Optimiert

Einen weiteren Ausblick in die Zukunft lässt sich der Historiker noch abringen: Er sieht die Robotik im Vormarsch. „Sie werden künftig noch mehr Programme und Berufe beherrsche­n, was den Druck auf die Mittelschi­cht erhöht.“Aber vielleicht überwindet der Mensch bis dahin seine letzten Grenzen: „Wir sind noch ungleich, durch unsere Ressourcen und Beschaffen­heit. Das kann sich ändern, wenn wir lernen, un- sere Körper entspreche­nd zu modifizier­en.“Damit schlägt er in eine ähnliche Kerbe wie der israelisch­e Historiker Yuval Noah Harari, der in seinem Bestseller „Homo Deus“eine Revolution der menschlich­en Existenz durch Biotechnik und Robotik prophezeit.

Walter Scheidel: „Das ist längst nicht mehr Science Fiction.“Dies beobachte er im Silicon Valley, wo die Leute seit Jahren aktiv daran arbeiten. „Sie wollen 1000 Jahre alt werden – und werden auch die ersten Nutznießer davon sein, andere vielleicht erst etwas später.“Eine Ungleichhe­it der anderen Art, die sich vermutlich nicht verbieten lässt. Sorgen bereiten ihm diese Entwicklun­gen nicht, er sehe ihnen mit Spannung entgegen.

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