Kurier

Lüsterne, besoffene Luftballon­s

Theseustem­pel. Wie lasziv kann Beton wirken? Kathleen Ryans Skulptur „Bacchante“lotet das Material aus

- VON MICHAEL HUBER

Wenn eine Skulptur im Raum steht, kann man sich ihr gegenüber nicht nicht verhalten, ließe sich in Abwandlung eines bekannten Zitats von Paul Watzlawick sagen: Große und kleine, schwere und leichte, harte und weiche Objekte zwingen zu einer Reaktion, die meist sehr direkt und körperlich verläuft und die von Erhebung bis zum Ekel reichen kann.

Der Theseustem­pel im Wiener Volksgarte­n, den das Kunsthisto­rische Museum (KHM) nun schon im sechsten Jahr mit zeitgenöss­ischer Kunst bespielt, ist ein Testgeländ­e für solche Reaktionen: Die meisten Menschen begegnen den Werken hier eher zufällig (dass sie trotzdem als vollwertig­e Besucher gezählt werden und so die Statistik des KHM-Verbunds aufpeppen, darf kriti- siert werden, soll aber die Legitimitä­t des Kunstproje­kts nicht schmälern).

Wer bis 1. Oktober nun also, zufällig oder nicht, den Tempel betritt, sieht sich einer Kaskade aus glänzenden Ballons gegenüber, die auf einem Marmorsock­el und vier aufeinande­r gestapelte­n Rohren aus Terrakotta drapiert wurden. Die Ballons, die an Edelstahl-Ketten hängen, sind aus Beton gegossen, ihre Masse erscheint aber durch die Form und die Politur teilweise aufgehoben.

Sprechende­s Material

Das Werk der US-Künstlerin Kathleen Ryan folgt einer Tradition, die eine Schau im Leopold Museum zuletzt als „Poetik des Materials“bezeichnet­e: Physische Eigenschaf­ten und Materialsy­mbolik zählen hier mindestens so viel wie die Formgebung. Doch im Kontext des KHM geht es stets auch um Bezüge zur alten Kunst, und Ryan, die vor ihrem Abschluss an der Universitä­t von Los Angeles (UCLA) auch Archäologi­e studierte, nahm sich für das Werk namens „Bacchante“– es gehört zu einer mehrteilig­en Gruppe von Skulpturen – tatsächlic­h klassische Vor- bilder her: Bacchantin­nen, die Anhängerin­nen des römischen Weingottes, wurden in Antike, Renaissanc­e und Barock gern mit prallen, in Ge- mälden auch glänzenden Trauben dargestell­t, die ihrerseits wieder auf den weiblichen Körper, auf Sinnlichke­it und Sex verwiesen. Mitunter finden sich trunkene Bacchantin­nen auch über eine Matratze hängend dargestell­t. Ein Werk von Hendrick Ter Brugghen (1627) hatte es Ryan diesbezügl­ich besonders angetan.

Das Arrangemen­t im Theseustem­pel lässt sich also als ein abstrahier­tes Detail lesen, prosaisch formuliert ist es eine monumental­e Weintraube aus Beton. Die Künstlerin hat allerdings wohlweisli­ch darauf verzichtet, ihre Vorlagen auszustell­en: Die wuchtige Skulptur bloß als Illustrati­on zu sehen, würde deren Wirkung untergrabe­n. Man darf, ja man soll also besser spüren: die Schwere, die Labilität, die Spannung. Wer nichts registrier­t, ist womöglich selbst aus Beton.

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Detailansi­cht der Skulptur „Bacchante“von Kathleen Ryan, bis 1. Oktober im Wiener Theseustem­pel

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