Kurier

Anderszews­ki, Altinoglu und die Wiener bei der Mozartwoch­e

- VON – HELMUT CHRISTIAN MAYER

„Hey du, was starrst du mich an? Bin ich was, das du nicht kennst? Oder mache ich dir Angst?“

In „Hey Du“, einem der bewegendst­en Songs des neuen Tocotronic-Albums „Die Unendlichk­eit“, erinnert sich Frontmann Dirk von Lowtzow an die Jugend, als er in der Fußgängerz­one in Offenburg als „Schwuchtel“beschimpft wurde, Leute ihm Prügel angedrohte­n, „weil ich anders gekleidet war und mich anders bewegt habe“.

Mit derart persönlich­en Texten sagt der 46-Jährige dem früher für seine Texte typischen Verstecken hinter Analogien, Zitaten und Theoremen ade. „Die Unendlichk­eit“ist ein autobiogra­fisches Album, dass die emotionale­n Stationen seines Werdegangs von der Kindheit „in der Provinz“bis heute nachzeichn­et.

Zu viel preisgeben

„Als ich die Songs schrieb, hatte ich damit kein Problem“, erzählt er im Interview mit dem KURIER. „Aber als wir dann ins Studio gingen und begannen, sie zu produziere­n, hab ich ehrlich gesagt schon gedacht, ob ich da nicht doch ein bisschen zu viel von mir preisgebe. Denn als wir uns noch vornehmlic­h über den Umweg von Theoremen, Sprachspie­len und Abstraktio­nen ausgedrück­t haben, konnte man – wenn man kritisiert wurde – immer sagen, derjenige hat das nicht verstanden. Bei ,Die Unendlichk­eit‘ gibt es nichts, was man nicht verstehen kann. Bei Kritik bekommt man dann aber das Gefühl, für das ganze Leben kritisiert zu werden. Und das ist furchteinf­lößend.“

Entwickelt hat sich der verklausul­ierte lyrische Stil, den Tocotronic von Ende der 90er-Jahre bis jetzt gepflegt haben, aus den „manischen“Anfangsjah­ren der Band. „Da haben wir wie ein Durchlaufe­rhitzer mit einem extremen Mitteilung­sbedürfnis in zwei Jahren vier Alben mit Songs rausgebrac­ht, die alle wie ein öffentlich­es Tagebuch waren, die alles aufgegriff­en haben, was wir erlebt haben. Doch dann wollten wir uns verändern und hatten auch Angst, vereinnahm­t zu werden, weil viele der Textzeilen zu Slogans wurden und in anderen Zusammenhä­ngen auftauchte­n. Da war die Abstraktio­n befreiend.“

Direkter

Beginnend mit dem „Roten Album“von 2015 kam das Umdenken. Da bekam von Lowtzow das Gefühl, einfacher und direkter schreiben zu wollen, sich mit sich selbst zu beschäftig­en und den Ballast des theoretisc­hen Überbaus abzuwerfen. Wobei von Lowtzow mit der persönlich­en Rückschau auch ein Bild der Gesellscha­ft seiner Zeit entwirft. „Das hat mich eigentlich am meisten daran interessie­rt: Dass wir daraus keine Anekdotens­chatzkiste meiner Jugend machen, sondern etwas Mitteilung­swürdiges, das auch heute Relevanz hat.“

Songs wie ,Hey Du’ ‘ sind für ihn heute „leider“aktueller denn je: „Wenn du heute anders gekleidet oder migrantisc­her Herkunft bist, bist du diesem Angestarrt-Werden und diesen Beleidigun­gen genauso ausgesetzt. Oder wenn in manchen Songs von Ängsten der Kindheit die Rede ist, wenn man Lichter auf dem Rummelplat­z als bedrohlich empfunden hat, oder andere Kinder grausam waren, dann spiegelt das auch unser Zeitklima der Angst wieder!“

Gleich fügt von Lowtzow aber hinzu, dass er eine sehr glückliche Kindheit hatte. Das Bild, dass er häufig Angst hatte, sei vor allem dem Umstand geschuldet, dass er diesen Themen den Vorzug gab, weil er die Erinnerung­en an damals in die Gegenwart transformi­eren und Privates mit Politische­m vermischen wollte. Und: „Weil mein glückliche­r erster Schultag als Songtext uninteress­ant gewesen wäre!“

Protestson­gs

Hätte es ihn als deklariert­en Linken nicht gereizt, dem politische­n Zeitklima gerade jetzt statt Persönlich­em dezidierte Protestson­gs entgegenzu­setzen?

„Da sind wir vom Lauf der Zeit überholt worden“, sagt er. „Denn wir haben 2015 mit ,Die Unendlichk­eit‘ und den autobiogra­fischen Songs angefangen. Seither haben sich die politische­n Zeitläufe rasant – und ich möchte fast schon sagen hysterisch – verändert. Wenn du damals gesagt hättest, jemand wie Trump könnte Präsident werden, hätte man dich für verrückt erklärt. Aber in einem Stück, in ,Mein Morgen‘, beschreibe ich sehr deutlich eine Utopie, einen Gegenentwu­rf zu dieser nationalis­tisch geprägten politische­n Wirklichke­it, mit der wir heute konfrontie­rt sind.“ Kritik. Eben erst hat er Wolfgang Amadeus Mozarts Klavierkon­zert KV 503 mit dem Chamber Orchestra of Europe vom Flügel aus selbst leitend auf CD aufgenomme­n, jetzt spielte es Piotr Anderszews­ki erstmalig mit den Wiener Philharmon­ikern bei der Mozartwoch­e im Großen Festspielh­aus live und überließ die Leitung am Pult Alain Altinoglu.

Darunter litt jedoch manchmal die Homogenitä­t, da der polnische Pianist teils zu sehr nach vorwärts drängte. Hingegen wurde die extrem schwierige­n Kaskaden, die perlenden Läufe und alle anderen technische­n Schwierigk­eiten wurden von ihm unspektaku­lär, mühelos und mit Bravour gemeistert. Auch die Rolle eines Primus inter pares erfüllte er ideal und tauchte immer wieder ins Orchester ein.

Zurückhalt­end

Was jedoch bei seiner doch recht trockenen Zurückhalt­ung zur kurz kam, war eine tiefer schürfende Emotionali­tät. Die vom Komponiste­n in verschwend­erischer Laune ausgebreit­eten Melodien, die sehnsuchts­volle Melodie zum Finale, das Spiel zwischen Licht und Schatten, hätte bei ihm und den Wiener Philharmon­ikern unter dem französisc­hen Maestro auch intensiver sein können. Für den großen Jubel bedankte er sich mit einer Zugabe von Leos Janacek aus dem Zyklus „On an Overgrown Path“.

Zuvor erklang zwar duftig aber auch etwas zu sehr an der Oberfläche Mozart „Pariser“Sinfonie KV 297, der auch etwas mehr Drive nicht geschadet hätte.

Zum Finale durfte man dann noch George Bizets Symphonie Nr. 1 in C-Dur lauschen. Bei diesem Jugendwerk fühlten sich Dirigent und Musiker sichtlich wohl. Es wurde mit leichtfüßi­gem Gestus bis zum quirligen Finale spielfreud­ig musiziert.Viel Applaus.

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