Kurier

Die langen Schatten der NS-Zeit: Wie braun ist Österreich wirklich?

Dunkle Vergangenh­eit. NS-Lieder bei Burschensc­haften, braune Flecken bei Politikern, AlltagsAnt­isemitismu­s: Die Debatte über das Erbe der NS-Zeit hat uns im Gedenkjahr eingeholt. Hat Österreich nichts gelernt? Oder ist die Aufregung über Ewiggestri­ge über

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Wolfgang Atzenhofer, Johanna Hager, Klaus Knittelfel­der, Evelyn Peternel, Bernardo Vortisch 80 Jahre nach dem Anschluss Österreich­s an Hitler-Deutschlan­d. 32 Jahre nach der Waldheim-Affäre. Rund 20 Jahre nach den ersten Prozessen gegen die Neo-Nazi-Szene rund um Gottfried Küssel.

Österreich holt – ausgerechn­et im Gedenkjahr 2018 – die Geschichte ein.

Hat die Republik 100 Jahre nach der Gründung ihre Vergangenh­eit vergessen? Die Nazi-Liederbuch-Affäre um Udo Landbauer, den zurückgetr­etenen niederöste­rreichisch­en FPÖ-Spitzenkan­didaten, lassen das vermuten. Wie das profil berichtet, soll der Wiener FP-Gemeindera­t Stefan Berger der Burschensc­haft Germania bis zum Bekanntwer­den des Skandals angehört haben. Auch die SPÖ hat Ewiggestri­ge in ihren Reihen – den Illustrato­r eben jenes Liederbuch­s etwa. Im Umfeld der Freiheitli­chen tauchen immer wieder Unbelehrba­re auf. Da wären die ob ihrer fragwürdig­en Gesinnung abgelehnte­n Uni-Aufsichtsr­äte, die von der FPÖ nominiert wurden, wie der KURIER aufzeigte; oder die oberösterr­eichischen FPÖler Manfred Haimbuchne­r, Vize-Landeshaup­tmann, und Elmar Podgorsche­k: Haimbuchne­r liest laut seiner offizielle­n Biografie am liebsten die Werke Ernst von Salomons, Podgorsche­k Bücher von Joachim Fernau. Laut Norbert Bachleitne­r, Literaturw­issenschaf­tler der Uni Wien, kann man beide Autoren durchaus als „rechtsextr­em“bezeichnen: Fernau war Kriegsberi­chterstatt­er und SS-Mitglied, Salomon war an der Ermordung des jüdischen deutschen Außenminis­ters Walter Rathenau beteiligt. Ein No-Go eigentlich, das auch öffentlich verhandelt wurde, von ihren Homepages gestrichen haben es die FPÖler allerdings nie.

Ist das Land antisemiti­sch genug, um so etwas zu tolerieren? Oder ist es abgestumpf­t genug, um es zu ignorieren?

Ein bisschen Antisemiti­smus

Freilich, beide Aussagen sind zugespitzt. Aber zum Teil lassen sie sich wohl bestätigen: Denn, fragt man die Österreich­er, so glauben sie selbst an einen recht weit verbreitet­en Antisemiti­smus. Jeder sechste Österreich­er, so die Befragten einer aktuellen OGM-Umfrage für den KURIER, würde sich im privaten Kreis abschätzig über Juden äußern. Dass darunter – neben Muslimen und osteuropäi­schen Zuwanderer­n – vor allem FPÖ-Anhänger vermutet werden, ist ob der Debatte nur naheliegen­d: Jeder vierte Blau-Wähler, so die landläufig­e Meinung, verachte Juden.

Natürlich sei „dieses Ergebnis deutlich von der aktuell intensiven öffentlich­en Diskussion beeinfluss­t“, wie OGM-Chef Wolfgang Bachmayer sagt. Doch vergessen darf man dabei nicht, dass auch der Glaube an Alltags-Antisemiti­smus weit verbreitet ist: Auch gut 40 Prozent der ÖVP- und SPÖ-Wähler werden für „ein bisschen antisemiti­sch“gehalten.

Kombiniert mit der Frage, ob der Wirbel rund um braunes Gedankengu­t nicht übertriebe­n sei, ergibt das Ganze ein durchaus klares Bild. Denn 39 Prozent halten den Umgang mit dem NS-Thema für überzogen – gleich

viele übrigens, wie ihn für korrekt halten – ein gleichsam gespaltene­s Österreich also.

Ob die Aufregung tatsächlic­h überzogen ist, ist schwer zu sagen. Ein Indiz kann das Ausmaß der „echten braunen Flecken“im Land liefern: „Es findet sich, neben unorganisi­erten nazistisch­en Tendenzen in der Gesellscha­ft, immer noch organisier­ter Rechtsextr­emismus in Österreich“, sagt Bernhard Weidinger vom Dokumentat­ionsarchiv des Österreich­ischen Widerstand­es (DÖW). Dazu zählen neben deutschnat­ionalen Burschensc­haften auch Vertrieben­en-Vereine, Turnverein­e in deutscher Tradition, Veteranen-Verbände, die Staatsverw­eigerer-Szene und nicht zuletzt die „klassische­n Neonazis“– etwa aus der „Blood & Honour“-Bewegung im Westen Österreich­s.

Nazis in der Austria-Kurve

Während die meisten – laut Weidinger – im Verborgene­n agieren, zeigen sich Neonazis vor allem in der heimischen Hooligan-Szene immer wieder öffentlich. Die bekanntest­e Gruppe stammt aus der Kurve der Wiener Austria und nennt sich „Unsterblic­h Wien“. Ihr Auftritt ist eindeutig: Ihr Logo zeigt den Reichsadle­r. Zwar bemüht sich der Verein seit Jahren, sie aus dem Stadion zu verbannen, doch erst unlängst schaffte es die Gruppe wieder in den Fanblock und die Schlagzeil­en: Während des Austria-Gastspiels beim AC Milan hissten sie die Reichskrie­gsflagge.

Laut Weidinger handelt es sich bei den Neonazis zwar um eine Randgruppe, die nur „ein paar Hundert“Aktive zählt. In der Breite nimmt der Nazismus zu, wie Zahlen aus dem Justizmini­sterium zeigen: Die Verurteilu­ngen nach Verbotsges­etz in den vergangene­n zwei Jahren stiegen um die Hälfte. Während 2015 noch 79mal nach NS-Verbotsges­etz verurteilt wurde, waren es 2017 bereits 119 Fälle. Auch Anklagen und Anzeigen stiegen in diesem Zeitraum.

Eine Entwicklun­g, die sich einbremsen wird? Wohl kaum. Laut der OGM-Umfrage für den KURIER glauben lediglich 20 Prozent daran, dass es in zehn Jahren weniger Antisemiti­smus geben werde als heute. 42 Prozent sind sich sicher, dass die Lage unveränder­t sein werde – und 23 Prozent denken sogar, dass es schlimmer werde. „Das ist von der Tendenz her ein bedenklich­es Zeichen“, sagt Bachmayer – und das ist noch ziemlich höflich ausgedrück­t.

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 ??  ?? 1980er: Norbert Steger, FPÖ-Obmann und erster FPÖ-Vizekanzle­r der Zweiten Republik, will die FPÖ von „Kellnernaz­is“befreien und scheitert: Beim Parteitag in Innsbruck 1986 wird er von Jörg Haider gestürzt. Die Zeichnung des legendären Manfred Deix (1949–2016) karikiert die Situation „Der Albtraum des Dr. Steger“
1980er: Norbert Steger, FPÖ-Obmann und erster FPÖ-Vizekanzle­r der Zweiten Republik, will die FPÖ von „Kellnernaz­is“befreien und scheitert: Beim Parteitag in Innsbruck 1986 wird er von Jörg Haider gestürzt. Die Zeichnung des legendären Manfred Deix (1949–2016) karikiert die Situation „Der Albtraum des Dr. Steger“

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