Autokratien auf dem Vormarsch
Studie. Fast die Hälfte der Weltbevölkerung wird autoritär regiert. Auch in Europa sind Demokratien bedroht
Geht es um diktatorische Systeme, denken viele Menschen in der EU zuerst an Syrien oder Nordkorea. Auch China oder Russland werden oft als Beispiele genannt. Allerdings sind diese Staaten nur die Spitze eines Eisberges, der sich mittlerweile bis nach Europa ausdehnt.
Das ist das Fazit des aktuellen Transformationsindex der deutschen BertelsmannStiftung (BTI), der am Donnerstag präsentiert wurde. Wie der alle zwei Jahre aktualisierte Index über die politische Lage in 129 Entwicklungsund Schwellenländern zeigt, leben heute rund 3,3 der 7,6 Milliarden Erdenbewohner in autokratischen Staaten – so viele wie nie seit Beginn der Erhebungen 2004.
In vielen Ländern ist zudem die Demokratie bedroht: In nur mehr jedem 14. der 129 untersuchten Länder gilt die Abhaltung von Wahlen als vorbildlich, lediglich zehn Staaten verfügen über uneingeschränkte Meinungsund Pressefreiheit.
„Bestenliste“
Insgesamt 58 Autokratien zählt die Studie, die auf der wissenschaftlichen Einschätzung von 250 Länderexperten beruhen. Demgegenüber stehen 71 Demokratien.
Angeführt wird die „Bestenliste“von Uruguay. Man könne das südamerikanische Land ohne Zweifel als „Transformations-Champion“bezeichnen, sagt Robert Schwarz, Projektmanager der Studie bei Bertelsmann, zum KURIER. „Uruguay gehört seit bereits zwölf Jahren zur Spitzengruppe der Rankings in Bezug auf Demokratie und Regierungsführung. Es gibt unter anderem freie und faire Wahlen, Versammlungsfreiheit, eine unabhängige Justiz; Bürgerrechte werden effektiv geschützt.“
Zivilgesellschaft und Parteiensystem seien gut aufgestellt, so Schwarz, Regierungswechsel funktionierten gut. „Es gibt viel Armut, dennoch setzt die Regierung ihre sehr begrenzten Ressourcen in vorbildlicher Weise ein, betreibt eine sozial inklusive Politik und schafft es, die Menschen bei ihrer Reformpolitik mitzunehmen.“
Am anderen Ende der Skala, also an der Spitze der Autokratien, liegt das ostafrikanische Somalia, das seit 27 Jahren keine funktionierende Zentralregierung mehr hat, unter Warlords und Terrormilizen umkämpft ist, regelmäßig unter Hungersnöten leidet und allgemein als „Failed State“gilt.
„Staatliche Grundlagen existieren nicht und die international anerkannte Regierung hat über die Hauptstadt Mogadischu hinaus keine Macht “, nennt Schwarz die Gründe. „Es gibt nicht einmal Rudimente einer Demokratie.“
Rückschritte in Europa
Und wie schaut es in Europa aus? Von der Ausnahme Weißrussland abgesehen galten autoritäre Systeme hier nach dem Fall des Eisernen Vorhanges als überwunden. Wie schnell sich das ändern kann, zeigen die Beispiele der EU-Länder Polen und Ungarn.
Seit seiner zweiten Wahl zum Premierminister 2010 baut der Chef der nationalkonservativen, populistischen Fidesz-Partei, Viktor Orban, den Staat gemäß seiner Idee einer „illiberalen Demokratie“um. Er nimmt kritische Medien und NGOs an die Kandare und darf dennoch – oder gerade deswegen – am 8. April mit einem haushohen Sieg bei den Parlamentswahlen rechnen.
Ähnliche Entwicklungen gibt es in Polen unter der ebenfalls nationalkonservativen PiS-Partei, auch wenn Polen laut Schwarz „immer noch auf einem höheren Niveau“als Ungarn liegt.
Unter Beobachtung
Ungarn und Polen stehen laut Robert Schwarz für einen Trend, wonach populistische Regierungen weltweit mit autokratischen Tendenzen den liberalen Kern der Demokratie untergraben.
„Sie schwächen Stück für Stück die Kontrollfunktion des Parlaments, unabhängiger Gerichte und kritischer Medien. Was übrig bleibt, ist das Berufen auf den vermeintlichen Willen des Volkes. Das ist eine gefährliche Entwicklung, die den liberalen Kräften innerhalb der EU Kopfzerbrechen bereitet.“Die EU beobachtet Ungarn und Polen deshalb genau, gegen letzteres läuft wegen einer umstrittenen Justizreform sogar ein Vertragsverletzungsverfahren, das in letzter Konsequenz zum Verlust der Stimmrechte des Landes auf EU-Ebene führen könnte.
„Defekte Demokratie“
Am deutlichsten ist die weltweit um sich greifende Abnahme der Akzeptanz demokratischer Institutionen den Autoren des Transformationsindex zufolge in der Türkei zu beobachten.
Wie der Vorsitzende der Bertelsmann-Stiftung, Aart de Geus, gestern sagte, wurde die „Aushöhlung der Gewaltenteilung“in keinem anderen Land zuletzt so klar vorangetrieben wie in der „stark defekten Demokratie“am Bosporus.