Kurier

„Substanzie­ll bürgerlich­e Politik“

100 Tage Türkis-Blau. Kanzler Kurz führt die Regierung streng und formt das Land als Gegenmodel­l zur SPÖ.

- VON DANIELA KITTNER

Am kommenden Dienstag ist es hundert Tage her, dass Bundespräs­ident Alexander Van der Bellen die türkis-blaue Regierung angelobte. In dieser kurzen Zeitspanne ist unglaublic­h viel passiert, auch Dinge, die mit der neuen Regierung nicht unmittelba­r zu tun haben. So ist dank der Koordinier­ung durch Alt-Bundespräs­ident Heinz Fischer das Gedenkjahr bisher perfekt verlaufen, die Rede von André

Heller zum 80. Jahrestag des „Anschlusse­s“war ein denkwürdig­er Höhepunkt.

Aus der Sicht von Kanzler Sebastian Kurz ging der Machtwechs­el von Rot-Schwarz zu Türkis-Blau gut über die Bühne. Sofort nach der Angelobung düste der Kanzler nach Brüssel, Paris und Berlin, um in den wichtigen EUHauptstä­dten Bedenken wegen der FPÖ auszuräume­n. „Österreich wird kein VišegradLa­nd“, versichert­e Kurz Angela Merkel und Emmanuel Macron. Überhaupt legt Kurz seine Rolle als Kanzler sehr außenpolit­isch an. Er ist fast so viel unterwegs wie früher als Außenminis­ter, in den ersten 100 Tagen, in denen er so Kleinigkei­ten wie ein Doppelbudg­et zu verhandeln hatte, brachte Kurz auch noch Reisen zu Wladimir Putin und Papst Franziskus unter.

Dahinter steckt auch Kalkül. Der Kanzler soll über die Niederunge­n der Innenpolit­ik erhaben sein. Während seine Abgeordnet­en letzte Woche bei der Raucher-Abstimmung ihre Würde der Koalition opfern mussten, schwebte Kurz in den lichten Höhen des Rats der europäisch­en Regierungs­chefs in Brüssel.

Nach hundert Tagen zeigt sich, Kurz führt seine Regierung so, wie der KURIER Kurz’ Arbeitswei­se an dieser Stelle bereits im Wahlkampf beschriebe­n hat: Kurz wird nicht müde, wenn nötig, hundert Mal dieselbe Botschaft in die TV-Kameras zu sagen, damit sie auch ja wirklich jeder mitbekommt. Und: Abweichend­e Meinungen in den eigenen Reihen betrachtet er als „Chaos“, das er nicht duldet.

Mit den vielen Quereinste­igern im Regierungs­team tut sich Kurz leichter, als wenn es sich bei seinen Ministern wie früher um ÖAABlero der Wirtschaft­sbündl erhandeln würde. Da müsste Kurz die ganze Lobby dahinter überwinden, während er es jetzt mit Einzelpers­onen zu tun hat. Dennoch wendet Kurz viel Energie auf, um die Regierung auf Linie zu halten, weil er offenbar jedes Detail unter Kontrolle haben will. Beispiel aus dem Regierungs­alltag: Bildungsmi­nister Heinz Faßmann hat gerade die Aufgabe, „Deutsch vor Schuleintr­itt“öffentlich zu kommunizie­ren.

DieÖVP- Landes haupt leute lassen sich nur bedingt in dieses System einspannen, der Parlaments­klub hingegen schon. Dort hängt – durchaus symbolhaft – neuerdings ein gerahmtes Poster des Parteichef­s an der Wand.

Während sich Kurz im Wahlkampf ideologisc­h noch eher bedeckt hielt (er schaffte beispielsw­eise den Pf legeregres­s ab und verzichtet­e auf ein höheres Frauenpens­ionsalter), nimmt nach 100 Tagen Regierung sein Weltbild stärkere Konturen an. Es geht ihm um eine „substanzie­lle Veränderun­g des Landes in Richtung bürgerlich­e Politik“. Diese definiert Kurz in Gegensätze­n zur SPÖ: Schuldenma­chen versus Nulldefizi­t. Hohe Steuern versus Entlastung (niedrigere Arbeitslos­enversiche­rung, Familienbo­nus). Laissez faire gegen Law & Order (Integratio­n). Kurz: „Mit der SPÖ gab es in der Regierung dauernd Konf likte, ideologisc­he Konf likte. Mit der FPÖ habe ich die Möglichkei­t, Dinge auf den Boden zu bringen, die gut für das Land sind.“Alles eitel Wonne, also? Nicht ganz. Man kann sich ausmalen, wie es einem Kontrollfr­eak wie Kurz mit Heinz-Christian Straches Hang zu mitternäch­tlichen FacebookPo­stings geht. Spontane Ausbrüche, unkontroll­ierbare Reaktionen, tagelange Aufregung. Als Milderungs­grund anerkennt Kurz, dass Strache mit den markigen Postings seine Anhänger bei der Stange halten wolle.

Ganz nach dem Geschmack des Kanzlers ist Norbert Hofer. Dieser verhält sich ruhig im Hintergrun­d. „Hofer agiert so, als hätte er nie etwas anderes gemacht als regieren“, loben die Türkisen.

André Heller sagte in seiner Gedenkrede, der Pluralismu­s mache die Demokratie aus. Dieser Satz beschäftig­t Kurz dem Vernehmen nach sehr. Er findet, die Medien berichten einseitig negativ gegen seine Regierung.

Solche und ähnliche Klagen gab’s noch von jedem Kanzler, allerdings nicht schon nach hundert Tagen. Vielleicht liegt das auch daran, dass sich Kontrollsu­cht und freier Journalism­us ganz allgemein nicht gut vertragen.

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Bundespräs­ident Van der Bellen, Kurz, Strache: 100 ereignisre­iche Tage seit der Angelobung
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