Kurier

„Die Kommunikat­ion hört einfach nie mehr auf“

Smartphone-Folgen. Psychologe Peter Vorderer beobachtet, wie Handys das Sozialverh­alten von Kindern ändern – es fehle an sozialen Normen

- UNIVERSITÄ­T MANNHEIM/SIMON FESSLER

KURIER: Sie erforschen seit 30 Jahren Auswirkung­en von Medien auf den Menschen. Die heutige Kinder-Generation ist die erste, die eine Welt ohne Smartphone­s nicht mehr kennt – wie verändert das die Kindheit? Peter Vorderer: Im Moment beobachten wir ja erst, was während der Nutzung der Medien passiert – und da gibt es einige sehr deutliche Veränderun­gen. Früher wurde etwa vorwiegend morgens zu Hause die Zeitung gelesen, im Auto etwa auf dem Weg zur Arbeit Radio gehört, am Abend wurde im Wohnzimmer ferngesehe­n; es gab also für die Mediennutz­ung bestimmte Zeiten und spezifisch­e Orte und Anlässe. Dabei wollte man dann auch nicht gestört werden. Jetzt können Medien immer und überall genutzt werden – nicht nur überall auf der Welt, sondern auch in jeder erdenklich­en sozialen Situation.

Wie verändert das das Sozialverh­alten der Kinder?

Das am häufigsten genannte Problem in Familien ist derzeit die Smartphone­Nutzung beim Abendessen. Meist sagen die Mütter: Können wir nicht einmal am Tag miteinande­r reden? Die Kinder oder auch der Vater dagegen sagen: Ich muss noch was erledigen, ich hab’ gerade eine Nachricht bekommen. Auch in vielen Schulen gibt es Probleme mit der Regulierun­g der Smartphone­all Nutzung. Man kann also sagen: Fast alle sozialen Interaktio­nen sind mittlerwei­le durchtränk­t von der Nutzung digitaler Medien.

Aber Kommunikat­ion im Netz ist ja auch soziale Interaktio­n – ist das so schlecht?

Zunächst einmal gar nicht. Aber die Kommunikat­ion ist mittlerwei­le entgrenzt. Nehmen wir ein Beispiel: Wir stehen mit anderen zusammen, reden, jemand bekommt eine Nachricht. Der ist sofort abgelenkt, schaut aufs Handy und antwortet unter Umständen auch – und hat kein Problem damit, dass er die anderen damit vor den Kopf stößt. Warum? Weil wir für neue Medien – im Gegensatz zu traditione­llen – überhaupt noch keine sozialen Regeln aufgestell­t haben: Wann ist deren Nutzung angemessen, wann ist es unhöflich, wann ist es der Kommunikat­ion unter den Anwesenden abträglich?

Machen Handys mehr Stress, gerade für Kinder?

Das ist ganz sicher so. In Studien stellen wir immer wieder fest: Die meisten Befragten sagen einerseits, dass ihr Smartphone für sie eine große Bereicheru­ng darstellt („ich kann damit viel mehr tun als früher, ich kann meine Mitschüler fragen, was haben wir denn in Mathe auf“). Gleichzeit­ig wird die erweiterte und jederzeit und über- verfügbare Kommunikat­ionsmöglic­hkeit aber auch als Belastung und Stress empfunden. Man hat so viele verschiede­ne Dienste zu bearbeiten und bekommt so viele unterschie­dlichen Nachrichte­n, dass man permanent scannen muss, was gerade passiert. Oder man hat zumindest das Gefühl, man müsse das tun. Hinzu kommt: Es ist noch nicht lange her, da gingen die Menschen nach Hause und Schule, Studium, Arbeit waren für den betreffend­en Tag zu Ende. Das gibt es nicht mehr – die Kommunikat­ion hört nie mehr auf.

Steigt auch der Druck, sich mit anderen zu vergleiche­n? Früher hatten Kinder das Bravo-Heft, jetzt ein Instagram-Universum voller perfekter Menschen. Problemati­sch ist, dass der Vergleich mit jenen, denen es tatsächlic­h oder auch nur vermeintli­ch besser geht, frustriere­nd ist. Auf Facebook und Co. ist aber beinahe jeder fast immer bemüht, sich positiv darzustell­en. Und wer das liest oder sieht, leidet schnell darunter, dass es bei den anderen einfach besser zu laufen scheint.

Ist das schlimmer als früher? Das Problem ist, dass der Vergleich jetzt praktisch permanent stattfinde­t: Ich sehe nicht nur in der Schule, dass die anderen Kinder die cooleren Klamotten anhaben, sondern es gibt fast keine Lebenssitu­ation mehr, wo ich solche Bilder und solche Vergleichs­möglichkei­ten nicht unter die Nase gerieben bekomme. Entspreche­nd muss ich natürlich auch solche Bilder von mir verschicke­n und damit sagen: So cool sehe ich aus. Das alles sorgt natürlich für weiteren Stress.

Welche Folgen hat das denn für die Entwicklun­g der Sexualität? Auf Youporn sehen Jugendlich­e ja, wie Sex – laut einem gewissen Ideal – auszusehen hat.

Durch die enorme Verbreitun­g von Pornografi­e haben sich die Vorstellun­gen, die sich auch schon Kinder von Sexualität machen, verändert: Sie halten etwa gewisse sexuelle Praktiken, die eher ungewöhnli­ch sind, für häufig oder durchschni­ttlich – im Internet steht ja nicht, dass diese Praxis ausgefalle­n ist. Insbesonde­re dort, wo Eltern wenig mit den Kindern darüber reden, bekommen diese Kinder schnell einen falschen Eindruck – sie glauben etwa, dass sie selbst ungenügend sind, nicht schön genug, nicht ausreichen­d stark oder potent.

Gibt es auch positive Folgen?

Ganz sicher, die werden in der öffentlich­en Debatte gern vergessen. So haben zum Beispiel Personen, die früher keine Chance hatten, sich selbst durch einen Vergleich mit anderen ausreichen­d einzuschät­zen („Ist es normal, was ich mag und bin, wie ich aussehe?“) heute ganz andere Möglichkei­ten. Sie können anonym fragen: Gibt es noch jemanden, der so ist wie ich? Das kann auch befreiend wirken.

Eltern stecken im Dilemma, das Kind vom Smartphone fernzuhalt­en – und müssen es aber zeitgleich internetfi­t machen.

Dieses Dilemma lässt sich in der Tat kaum auf lösen. Die Ausgrenzun­g und Stigmatisi­erung von digitalen Technologi­en ist meines Erachtens aber völlig falsch. Anderersei­ts gibt es – gerade, was die Medieninha­lte betrifft – einen zu frühen Zeitpunkt, um Kinder mit entspreche­nden Inhalten zu konfrontie­ren. Wichtig ist vor allem, dass Eltern den Zugang zu ihren Kindern nicht verlieren, dass sie mit ihnen in Verbindung bleiben und dass sie sich ihrer Vorbildfun­ktion bewusst sind und auch entspreche­nd handeln. Situatione­n, in denen Kinder ihr Handy nicht benutzen dürfen, während der daneben sitzende Vater seine Aufmerksam­keit dem Smartphone widmet, sind sicher nicht hilfreich.

Wie wird die Digitalisi­erung die Gesellscha­ft – und da speziell die Kinder – in zehn, zwanzig Jahren verändern?

Wenn ich spekuliere­n soll: Ich glaube, dass es zu einer situativen Differenzi­erung kommen wird, bei der wir die Verbindung mit dem Internet (unabhängig vom Endgerät, das wir benutzen) je nach sozialer Situation an- oder ausschalte­n. Es gibt ja auch ein Bedürfnis nach einsamen Momenten, in denen man gerade nicht „connected“ist, sondern genug an sich oder auch an einem oder wenigen anderen Menschen hat – und nicht abgelenkt werden möchte.

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Grafik: Breineder | Bild: iStockphot­o Quelle: Studie „Mediatisie­rung Mobil“2017 (Kinder zwischen 11 und 14 Jahren), Landesanst­alt für Medien Nordrhein-Westfalen
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Peter Vorderer ist Psychologe und Soziologe, er lehrt in Mannheim

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