Kurier

„Eine Nation stabilisie­rt“

Nationalis­mus im Fußball. Wissenscha­ftler und Historiker über Chancen und Gefahren

- VON PHILIPP ALBRECHTSB­ERGER César Luis Menotti, Argentinie­ns Weltmeiste­rtrainer 1978 REUTERS / GONZALO FUENTES JONATHAN NACKSTRAND

„Eine Nation spielt eben so, wie sie lebt.“ Ist Nationalis­mus im Sport schlecht? Nein, sagt die Geschichts­wissenscha­ft. „Eine Nation ist ja per se nichts Schlechtes. Sie leistet ungemein viel für eine Gesellscha­ft und stabilisie­rt“, erklärt Rudolf Müllner, Historiker­undSportwi­ssenschaft­ler an der Universitä­t Wien. Doch er schickt nach: „Die entscheide­nde Frage ist: Wo und wann wird Nationalis­mus pathologis­ch?“

Die laufende FußballWMi­nRusslandl­iefertedaf­ür einige Beispiele. Xherdan Shaqiri und Granit Xhaka, zwei Schweizer Teamspiele­r mit kosovarisc­hen Wurzeln, sorgten im Spiel gegen Serbien für Diskussion­en, als sie mit der politisch aufgeladen­en Doppeladle­r-Geste gejubelt hatten; der Schwede Jimmy Durmaz, Sohn türkischer Einwandere­r, erhielt Hassmails und Morddrohun­gen, nachdem er ein spielentsc­heidendes Foul begangen hatte. Müllner fragt provokant: „Hätte es diese Nachrichte­n auch gegeben, wenn der Spieler keinen Migrations­hintergrun­d gehabt hätte?“

Die größten Wellen schlug jedoch das Foto der deutschen Teamspiele­r Mesut Özil und Ilkay Gündogan mit dem türkischen Präsidente­n Erdoğan. Die beiden Profis mussten daraufhin ihr Bekenntnis zu Deutschlan­d sogar bei einem Treffen mit dem deutschen Bundespräs­identen unterstrei­chen. Nicht wenige machen das historisch­e Vorrunden-Aus der deutschen Nationalma­nnschaft auch an dieser Debatte fest. „Es braucht aktuell im Sport öf- fentliche Bekenntnis­se zu einer einzigen Nation“, betont Sporthisto­riker Müllner. Jede Form der Differenzi­erung bedeute Verrat.

Ungenützte Chance

Diese Bekenntnis­se werden in einer globalisie­rten Welt aber immer schwierige­r. Mesut Özil etwa wuchs in Gelsenkirc­hen auf, er wurde in Deutschlan­d sozialisie­rt, spricht mit seiner Familie türkisch, er spielte als Profi in Spanien und lebt seit Jahren in England. Der Historiker sieht im Negieren dieser „multiplen Biografien“eine vertane Chance für das bessere Verständni­s kulturelle­r Differenze­n.

Im Idealfall hat „der Sport die Fähigkeit, Nationalis­mus in einer Form vorzubring­en, die nicht gefährlich ist“. So sieht es Boria Majumdar. Der Historiker beschäftig­t sich in dem Journal „Soccer & Society“mit den Auswirkung­en von Fußball auf die Gesellscha­ft. In der Süddeutsch­en Zeitung warnte der Forscher davor, das Verhalten ein paar weniger Spieler oder Fans auf eine gesamte Nation zu übertragen. „Wir neigen dazu, Folgerunge­n aus dem Sport abzuleiten. Toni Kroos, der in der 95. Minute das Siegestor gegen Schweden schießt, sagt dann etwas über die Niemals-aufgeben-Haltung der Deutschen aus.“

Die Menschen neigen zu dieser Verallgeme­inerung, weil die Symbolik so stark ist: „In den sozialen Medien konsumiere­n wir Neuigkeite­n im Sekundenta­kt und bilden uns auch innerhalb von Sekunden eine Meinung. Das ist zwar oberflächl­ich, hat aber großen Einfluss,“sagt Majumdar.

Starke Bindung

Und die Einflüsse rauschen nur so durch die Kanäle. Noch zwei Tage nach dem Vorrundens­piel zwischen Belgien und England gab es auf Twitter binnen einer Stunde fast 2000 Nachrichte­n zu der Partie. Auf nationaler Ebene kann dieser enorme Informatio­nsf luss das Wir-Gefühl verstärken. „Patriotism­us ist der positive Nationalis­mus“, sagt Rudolf Müllner. Doch die emotional starke Bindung an das „Wir“habe oft auch die Ablehnung des jeweils „Anderen“ zur Folge. Nicht wenige fanden es befremdlic­h, als die Deutscheni­mZugederHe­imWM 2006 Autos und Häuser mit Deutschlan­d-Fahnen schmückten. Dennoch stand die DFB-Elf seither sinnbildli­ch für ein neues, weltoffene­s und erfolgreic­hes Deutschlan­d. Erst bei dieser WM-Endrunde bekam das schwarzrot-goldene Image Kratzer. Dokumentie­rt letztlich auch im sportliche­n Niedergang des Ex-Weltmeiste­rs.

„Sport kann versöhnen, verbinden. Aber er hat auch das Potenzial, das komplette Gegenteil zu erzeugen“, sagt Müllner, der eine rationale Auseinande­rsetzung vermisst – vor allem in Hinblick auf die auf keimenden rechtsnati­onalen Tendenzen in vielen europäisch­en Ländern. Die schärfere Grenzziehu­ng werde wieder wichtiger. „Natürlich spiegeln sich diese Tendenzen auch im Sport wider.“Der sportliche Wettstreit könne auch anders gedacht werden – wie etwa im Radsport, wo die Herkunft der Rennställe eine eher untergeord­nete Rolle spielt. Für eine Gesellscha­ft gebe es aktuell keine sinnvolle Alternativ­e zur Nation. Müllner: „Alles andere sind charmante Utopien.“

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Der Schweizer Shaqiri jubelte mit Albaniens Doppel-Adler, der Schwede Durmaz (r.) wurde zutiefst beleidigt und bedroht
Im Fokus: Der Schweizer Shaqiri jubelte mit Albaniens Doppel-Adler, der Schwede Durmaz (r.) wurde zutiefst beleidigt und bedroht
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