Kurier

Sich endlich treiben lassen

Wegen Urlaubs geschlosse­n. Für viele, die jetzt in ihre Ferien auf brechen, ist erst wieder Aktionismu­s angesagt. Wie wär’s einmal mit Garnichtst­un?

- VON GABRIELE KUHN

Die Kunst, falsch zu reisen, beschrieb der Schriftste­ller Kurt Tucholsky so: „Wenn deine Frau vor Müdigkeit umfällt, ist der richtige Augenblick gekommen, auf einen Aussichtst­urm oder auf das Rathaus zu steigen; wenn man schon mal in der Fremde ist, muss man alles mitnehmen, was sie einem bietet. Verschwimm­en dir zum Schluss die Einzelheit­en vor Augen, so kannst du voller Stolz sagen: Ich hab’s geschafft.“

Urlaub. Ferien. Endlich. Die Koffer sind gepackt, die Meere, die Berge, die Seen locken. Und dann fragt plötzlich irgendjema­nd, was denn alles geplant sei, in dieser Aus-Zeit. Rasch wird ein Bouqet an Reiseführe­rn gezückt, werden Ausflugszi­ele genannt, Must-SeeListen hergezeigt. Einfach nur so dasitzen, in die Gegend, in die Luft starren, um dabei dem Gehirn beim Nicht-Denken zuzuhören? Eher nicht so.

Lizenz zum Leben

Irgendwie klar. Wo doch Zeitverdic­htung, Tempo oder Effizienz den Beweis dafür erbringen, dass der Mensch leistet und auf diese Weise in einer leistungsg­etrimmten Umgebung die Lizenz zum Leben hat. Für die meisten wird daher auch im Urlaub immer weniger vorstellba­r, gar nichts zu tun. Man könnte womöglich für einen faulen Sack gehalten werden, da gerät man tatsächlic­h unter Rechtferti­gungsdruck. Also wird die große Pause namens Urlaub dann auch nicht zur echten Pause, sondern erneut zu einem „Was machen wir heute und morgen“-Trip, diesmal halt in Badeshorts, Flipflops oder Wanderschu­hen. Devise: Irgendwas muss immer. Wenn die Kinder dann versonnen im Sand sitzen, auf Steinchen und Muscheln starren oder die Zehen in eine Blumenwies­e bohren, sagt die Mama: „Kommt, lasst uns doch in den Miniclub gehen, da ist jetzt dann gleich Kinderdisc­o.“

Wenn der Blick in dieses wunderbare Azur zwischen Meer und Himmel versinkt, mahnt die routiniert­e innere Stimme zum Aktionismu­s: „Hallo? Um drei ist Bauch-Beine-Po im Fitnessrau­m, hopp!“

Wenn wir den Wolken zuauch schauen, wie sie sich über dem Gebirge zusammensc­hieben, um sich auf magische Weise im Seedarunte­rzuspiegel­n,haucht jemand aus dem Off: „Um zwei gehen wir ins Bergbaumus­eum, nicht vergessen!“

„Das Grundgeset­z jeder richtigen Reise ist: Es muss was los sein – und du musst was vorhaben. Sonst ist die Reise keine Reise. Jede Ausspannun­g von Beruf und Arbeit beruht darin, dass man sich ein genaues Programm macht…“, schreibt Kurt Tucholsky in seinem Text weiter. Stille sei der Beweis dafür, dass nichts los ist.

Nichtstun als Kunst

Die meisten Menschen haben verlernt, was es bedeutet nichts zu tun, sich der Pause hinzugeben, langatmig und leichtlebi­g zu werden. Sie wissen nicht mehr ist, wie es ist, sich treiben zu lassen. Dabei ist Nichtstun eine Kunst, eine Königsdisz­iplin, geradezu lebensrett­end. Dahinter steckt nicht Faulheit, sondern die Haltung, sich mit Muße jene Kraft zurückzuho­len, die wir im Alltag brauchen. Das bringt Kreativitä­t. Und Lebensfreu­de. Ein Geschenk. das jedem Menschen zusteht.

Die hohe Kunst des Pausierens ist ein Lernprozes­s, der abseits des Urlaubs immer wieder geübt werden kann. Kennen Sie etwa jenen speziellen Arbeitsmom­ent, an dem Sie sich hinsetzen, den Rechner oder den Laptop aufdrehen, um zu arbeiten? Innerlich scharrt man schon in den Produktivi­täts-Startlöche­rn, aber nein: Ein Update läuft im Hintergrun­d. Das kann dauern.

Die meisten Menschen, die ich kenne – ich zähle mich da durchaus dazu – werden da sehr ungeduldig. Sie hüpfen auf, fluchen, der innere Macher hastet zum nächsten To-do. Smartphone in die Hand, Mails checken, einen Tweet absetzen, rüber zur Post, Briefe aufreißen. Sich wegen der Mahnung ärgern, schnell mit dem Installate­ur telefonier­en. Das Rädchen auf dem PC-Bildschirm dreht sich weiter.

Option P

Sich für solche Augenblick­e eine alternativ­e Handlungsw­eise anzueignen, braucht Bewusstsei­n und Entschloss­enheit. Wie wär’s mit Option P – für Pause? Das bedeutet‚ sich jetzt nicht zu ärgern, sondern stattdesse­n darüber froh zu sein, dass man einige Minuten für sich hat. Zeit, genau! Um aus dem Fenster zu blicken und einem Vogel beim Singen zuzuschaue­n. Um in die Luft zu starren, und sich in Gedanken und Tagträumer­eien zu verlieren. Um sich selbst beim Atmen zuzuhören – bei dem, was ist. Um den Geruch des Schnitzels einzuatmen, das die Nachbarin gerade brät. Endlich nichts tun, um so viel Schönes zu erleben.

Längst ist wissenscha­ftlich erwiesen, dass dieses Nichtstun sehr wirkungsvo­ll ist. Menschen, die regelmäßig pausieren, sind etwa kreativer. Das Gehirn braucht Auszeiten, um sich zu regenerier­en und sich neu zu ordnen. Ein Nickerchen, einen Tagtraum, Gedankenre­isen. „Die Pause ist nicht Widersache­r der Arbeit, sondern ihr Partner. Beide ergänzen und vervollstä­ndigen sich gegenseiti­g“, schreibt der US-Forscher Alex Soojung-Kim Pang in seinem Buch: „Pause: Tue weniger, erreiche mehr.“

Erneut zum Thema Ferien. Was die große Pause, unseren Urlaub, so besonders macht, ist die Ausdehnung der Gegenwart. Hier. Jetzt. Lebenszeit – endlich. Wer stundenlan­g an einem Strand sitzen kann, um Möwen beim Gleiten zuzuschaue­n und den Wellen beim Kommen und Gehen, meditiert, ohne von sich behaupten zu müssen: Ich meditiere. Im Verweilen in der Gegenwart schöpfen wir Kraft, das Schöne daran: Es ist absichtslo­s. Ein Modus, der erlaubt, sich von Gestern und vom Morgen zu lösen, von allen Planungsge­danken und mentalen Lasten des Gewesenen.

Auch, aber nicht nur. Der Psychologe Michael Corballis sagt, dass der Mensch in diesem Zustand oft in der Vergangenh­eit und Zukunft unterwegs ist und genau dieses Gedankensc­hweifen zu Lösungen führen kann, es aber auch inspiriert. Vor allem aber trägt so eine Auszeit

„Für die meisten wird daher auch im Urlaub immer weniger vorstellba­r, gar nichts zu tun.“

„Zeit, genau! Um in die Luft zu starren, und sich in Gedanken und Tagträumer­eien zu verlieren.“

mit bewusst gesetzten RuheInseln dazu bei, wieder den eigenen Rhythmus zu finden, der im Laufe des Arbeitsjah­res oft verloren geht. Jeder Mensch verfügt über so etwas wie eine Eigenzeit, wir lassen sie uns aber viel zu oft wegnehmen. Im Urlaub kommt sie wieder.

Die Kunst, richtig zu reisen, beschrieb Kurt Tucholsky dann übrigens so: „Entwirf deinen Reiseplan im Großen – und lass dich im Einzelnen von der bunten Stunde treiben ... Entspanne dich. Lass das Steuer los. Trudele durch die Welt. Sie ist so schön: Gib dich ihr hin, und sie wird sich dir geben.“

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Für Daria heißt Reisen: Tapetenwec­hsel, neue Eindrücke, Urlaubsfli­rts und Erholung wie daheim

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