Kurier

„Spaltung Europas würde zunehmen“

Brüssel. Sturz Merkels würde vieles blockieren

- – INGRID STEINER-GASHI, BRÜSSEL

Die deutsche Regierung in der Krise, Kanzlerin und CDU-Chefin Angela Merkel unter Beschuss ihrer konservati­ven Schwestern­partei – das lässt auch in Brüssel niemanden gänzlich kalt. Denn die Folgen der politische­n Erschütter­ungen in Berlin sind bis ins Herz der EU zu spüren. Die Gefahr bestehe, meint Bert van Roosebeke, „dass die Debatte der zwei großen Themen – die Flüchtling­sfrage und das Euro-Zonen-Budget – in Europa erneut blockiert werden. Wie bereits während der deutschen Regierungs­bildungs gespräche könnte in Brüssel alles wieder auf Pause stehen“, führt der EU-Experte vom Centrum für Europäisch­e Politik (cep) gegenüber dem KURIER aus.

Ohne die Zustimmung des bevölkerun­gsreichste­n und wirtschaft­lich mächtigste­n Staates geht in der EU nichts. Für viele Entscheidu­ngen braucht es in der Union die Einstimmig­keit der 28 EU-Mitgliedsl­änder. Die Schubkraft dafür aber kommt oft aus Deutschlan­d. Zusammen mit Frankreich bildet die Führung in Berlin den Motor der europäisch­en Vorwärtsbe­wegung.

Stotternde­r Motor

Fällt einer der beiden aus, kommt nicht nur der Motor der Europäisch­en Union in Stottern. Auch die gemeinsame Fähigkeit, innerhalb der in vielen Fragen zutiefst zerstritte­nen EU zu vermitteln, geht verloren. „Zusammen sind Deutschlan­d und Frankreich ein ausgleiche­ndes Team“, sagte Roosebeke. Ohne Berlin würde Frankreich bei dessen Plänen für die Schaffung einer eigenen Euro-Budgetzone noch massiverer Widerstand der nordeuropä­ischen Staaten (und Österreich­s) entgegenwo­gen als schon bisher.

Bei all seinem pro-europäisch­en Reform-Eifer werde Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron ernst genommen, sagt auch Sebastian Vagt, „aber Macron nimmt bei seinen Plänen nicht alle Staaten mit. Er pocht auf ein Europa der zwei Geschwindi­gkeiten“, schildert der EU-Experte an der Friedrich-Naumann-Stiftung in Brüssel. Nach dem Motto: Die Reformwill­igen sollen sich zusammentu­n und nicht endlos darauf warten, bis alle mitziehen. So hat der französisc­he Staatschef in der Vorwoche eine Verteidigu­ngs-Zusammenar­beit von neun Ländern initiiert.

„Klassenspr­echerin“

Merkel aber, meint Vagt, „will kein Europa der verschiede­nen Geschwindi­gkeiten“. Überdies sei sie „kraft ihrer langjährig­en Erfahrung und ihrer Autorität die Einzige, die es schafft, in Europa zu vermitteln. Sie hat in Brüssel so einer Art Klassenspr­echerin-Rolle. Sie hält die auseinande­rstrebende­n Flügel in Europa zusammen.“Müsste Kanzlerin Merkel abtreten, könnte sich „die Spaltung Europas vertiefen“, glaubt Sebastian Vagt.

Eine Entwicklun­g droht sich damit fortzusetz­en, die schon jetzt wichtige Entscheidu­ngen lähmt – der große Dissens innerhalb Europas. Auf Verwaltung­sebene würde die EU-Maschine auch ohne deutsche Regierung vorerst weiter laufen. „Deutschlan­d würde nicht alles aufhalten“, sagt Bert Van Roosebeke, „aber der Impuls aus Deutschlan­d würde fehlen“.

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