Kurier

Brexit-Showdown am Landsitz

Großbritan­nien. Bei heutiger Kabinettss­itzung wird Schlagabta­usch zwischen Hardlinern und Gemäßigten erwartet

- AUS LONDON ROBERT ROTIFER

Zu den speziellen Privilegie­n des britischen Premiermin­isteramts gehört die Benützung von Chequers, einer Palast-artigen Landreside­nz im beschaulic­hen Buckingham­shire. Die schöne Aussicht ist auch vonnöten, sind es doch oft die kniffligst­en Anlässe, wegen derer man dort Zuflucht vor dem Trubel von Westminste­r sucht. Winston Churchill etwa sprach während des Krieges von Chequers aus per Rundfunk dem Volk Mut zu. Der Brexit, häufig als die größte politische Herausford­erung des Landes seit 1945 bezeichnet, soll das im 16. Jahrhunder­t erbaute Gemäuer heute nun erneut zum Schauplatz eines nationalen Wendepunkt­s machen.

29 Regierungs­mitglieder hat Theresa May dort heute zur Klausur geladen. Mehr als zwei Jahre nach dem BrexitRefe­rendum und knappe neun Monate vor dem Vollzug des EU-Austritts will sie ihr Kabinett endlich auf eine gemeinsame Linie zu den künftigen Handelsbez­iehungen mit der EU festlegen. Angeblich wurden für die anreisende­n Minister keine Betten bezogen.

„Fuck Business“

Angesichts der Vorzeichen scheint das reichlich optimistis­ch. Erst vergangene­s Wochenende berichtete das Boulevard-Blatt The Sun, der Umweltmini­ster und BrexitHard­liner Michael Gove habe ein von Mays Büro zusammenge­stelltes Kompromiss­papier wutschnaub­end zerrissen. Jenem als „Facilitate­d Customs Arrangemen­t“bezeichnet­en Plan zufolge soll Großbritan­nien seine eigenen Zölle für nach Großbritan­nien eingeführt­e Güter einheben, bei für den Rest Europas bestimmten Gütern aber Teil der europäisch­en Zollunion bleiben. Nicht nur Stimmen aus Brüssel, sondern auch Mays eigener EU-Austrittsm­inister David Davis haben diese Idee be- reits als „undurchfüh­rbar“bezeichnet.

Außenminis­ter Johnson wiederum nützte vorige Woche ein privates Dinner, um gegenüber dem belgischen Botschafte­r Rudolf Huygelen seine Meinung zu den Sorgen einer verunsiche­rten Wirtschaft zu vermitteln: „Fuck Business“, soll er gesagt haben. Die Tatsache, dass auch dieser von Johnson nicht dementiert­e Ausritt folgenlos blieb, spricht Bände über Theresa Mays Machtlosig­keit in ihrem eigenen Kabinett.

Johnsons Verbündete­r Jacob Rees-Mogg drohte indessen offen mit Mays Entmachtun­g, falls sie sich nicht an ihr persönlich­es Verspreche­n eines harten Brexit hielte. Der sich als Aristokrat der alten Schule stilisiere­nde Abgeordnet­e zitierte zur Untermauer­ung sogar aus William Shakespear­es Heinrich V.: „Dann ahmt dem Tiger nach in seinem Tun; spannt eure Sehnen, ruft das Blut herbei.“

Auf der einem sanften Brexit zugeneigte­n Gegenseite versammeln sich Kaliber wie der Staatssekr­etär für Europa und Amerika, Sir Alan Duncan, der Rees-Mogg wörtlich der „Unverfrore­nheit“bezichtigt­e, sowie Handelsmin­ister GregClark,dersich–entgegen der Premiermin­isterin – offen für ein Weiterbest­ehen der Bewegungsf­reiheit aussprach.

Jaguar warnt

Finanzmini­ster Philip Hammond wiederum hat angekündig­t, die versammelt­en Minister mit einem Vortrag düsterer Prognosen im Falle eines harten Brexit aus den Wolken ihrer Brexit-Träume zu holen. Gestern kam ihm dabei mit Jaguar Land Rover eine ikonenhaft­e, wenngleich zum indischen Tata-Konzern gehörende Marke der britischen Autoindust­rie zu Hilfe. Vorstandsc­hef Ralf Speth warnte, dass ein schlechter Brexit-Deal seine Firma rund 1,4 Milliarden Euro pro Jahr kosten würde. Ein Abwanderun­g steht im Raum. Zuvor hatten auch BMW und der Airbus-Konzern, der in Großbritan­nien Flügel herstellt, die Zukunft ihrer britischen Werke in Frage gestellt, falls die für die „Just in time“-Fertigung ihrer Produkte reibungslo­se Verschiffu­ng von Produktion­steilen vom bzw. zum Kontinent nicht mehr gewährleis­tet sei.

Gesundheit­sministerJ­eremy Hunt, der neuerdings auch Ambitionen auf die Nachfolge Theresa Mays erkennen lässt, wies daraufhin den europäisch­en Flugzeughe­rsteller an, sich „in diesem kritischen Moment der Verhandlun­gen hinter die Premiermin­isterin zu stellen“. Ein solcher Ton macht verständli­ch, warum ein anonym bleibender hochrangig­er Vertreter der britischen Wirtschaft­swelt gegenüber der BBC vorausblic­kend auf den Chequers-Gipfel von einem „Alice in Wonderland-Treffen ökonomisch­er Fantasien“sprach.

Für die Labour-Opposition wäre nun der Weg frei, sich mit einer besonnenen wirtschaft­sfreundlic­hen Linie als Alternativ­e zu profiliere­n. Aber ihr instinktiv euroskepti­scher Parteichef Jeremy Corbyn zog es vor, in der letzten Parlaments­sitzung vor der Klausur in Chequers über überhöhte Bus-Ticket-Preise zu sprechen. Nachdem in London vor knapp zwei Wochen mehr als 100.000 Menschen für ein zweites Referendum demonstrie­rten und dabei lautstark „Wo ist Jeremy Corbyn?“riefen, droht diesem nun seine gerade gewonnene Brexit-feindliche junge Anhängersc­haft davonzulau­fen.

Skurrile Allianz

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Der Austritt Großbritan­niens aus der EU ist selbst unter den Tories von Premiermin­isterin May umstritten. In ihrem Kabinett tun sich Gräben zwischen Hardlinern und anderen auf, die einen sanften Brexit anstreben
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Heikle Regierungs­treffen finden oft in Chequers, einer Landreside­nz in Buckingham­shire, statt. Premiermin­isterin May muss heute vermitteln

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