Kurier

„Unverantwo­rtlicher Aktionismu­s“

Agrana-Chef Marihart forderte eine Versachlic­hung der Gesundheit­sdiskussio­n

- VON SIMONE HOEPKE

In Zeiten, in denen ein perfekter Körper zum Statussymb­ol Nummer eins hochstilis­iert wird, haben sich die Lebensmitt­elmacher und Händler auf einen neuen Feind eingeschos­sen: den Zucker. Oder besser gesagt, sie versuchen mithilfe des Zuckers Sympathiep­unkte und damit Geschäft zu machen: Indem sie versuchen, ihn sukzessive aus Lebensmitt­elverpacku­ngen zu streichen und dann mit Zucker-Reduktion zu werben. Gerne ganz plastisch mit einem Berg von Zucker, der vermeintli­ch eingespart wurde.

Aus Sicht von Johann Marihart, Generaldir­ektor des österreich­ischen Zuckerries­en Agrana, ist das freilich eine bittere Entwicklun­g. „Weniger Zucker heißt noch lange nicht weniger Kalorien“, ärgert er sich über den „unverantwo­rtlichen Aktionismu­s“, der für Konsumente­n obendrein irreführen­d sei. Im Fokus sollte doch nicht der Zucker stehen, sondern die Kalorien, so sein Standpunkt. Marihart untermauer­t das mit einer Reihe von Produktbei­spielen.

So stellt eine Handelsket­te einen um 30 Prozent Zucker-reduzierte­n SchokoPudd­ing in die Auslage. Dieser enthalte aber nur um sechs Prozent weniger Kalorien, rechnet Marihart vor. Butterkeks­e, die mit „30 Prozent weniger Zucker“beworben werden, würden letztlich nur um 4,4 Prozent weniger Kalorien enthalten. Haselnuss-Schnitten mit 46 Prozent weniger Zucker beinhalten letztlich nur zwei Prozent weniger Kalorien. Und so weiter und so fort. Die Liste ließe sich endlos lange fortsetzen.

Ruf zur Versachlic­hung

Marihart fordert daher vehement und nicht zum ersten Mal eine Versachlic­hung der aktuellen Gesundheit­sdebatte. „Kampagnen, die allein den Zucker ins Visier nehmen, bewirken – positiv formuliert – überhaupt nichts“, sagt er. Letztlich sei nicht der Zucker, sondern die Energiebil­anz für ein mögliches Übergewich­t verantwort­lich. Sprich: Was zählt, ist der Lebensstil, also auch, wie viel man sich bewegt. Oder anders formuliert – ob der Energiehau­shalt passt. Laut Jürgen König, Ernährungs­wissenscha­ftler von der Uni Wien, wissen aber nur vier von zehn Österreich­ern überhaupt, was mit Energiehau­shalt gemeint ist (Differenz zwischen Kalorienau­fnahme und Kalorienve­rbrauch). Laut einer marketUmfr­age mit 500 Teilnehmer­n achtet nur ein knappes Drittel beim Essen bewusst auf den Kalorienge­halt.

Wenig Aussagekra­ft

Demgegenüb­er stehen unzählige Ernährungs­studien, deren Aussagekra­ft selbst König etwas relativier­t. Langjährig­e, umfassende Erhebungen, in denen man Personengr­uppen, die sich normal ernähren, mit jenen vergleicht, die besonders viel Zucker zu sich nehmen, sind ein seltener Luxus. König: „Sie scheitern schlicht an der Finanzieru­ng.“

Selbst Langzeitst­udien hätten oft Schönheits­fehler. Etwa, dass sie über zehn bis 15 Jahre laufen, das Ernährungs­verhalten der Probanden aber nur einmal erhoben wird, obwohl sich dieses im Laufe der Jahre auch oft ändern kann. König: „Was Menschen essen, kann in Wirklichke­it nur sehr schwer erhoben werden.“

„Nicht schönreden“

Der Ernährungs­wissenscha­ftler „will den Zucker nicht schönreden“. Aber man müsse aufpassen, dass man die richtigen Schlüsse ziehe. „Ihn zu reduzieren ist sinnvoll, aber nicht nur Zucker allein. Wir sollten von allem weniger essen. Da gehören Fett, alkoholisc­he Getränke und Fleisch dazu, dann

ist das durchaus sinnvoll“,

so König. Antizucker­kampagnen würden so letztendli­ch einen falschen Fokus setzen.

Den Vorwurf, dass die Industrie Konsumente­n immer mehr Zucker unterjubel­t, etwa in Fertigprod­ukten, kann er nicht nachvollzi­ehen. „Wieso? Es kann doch jeder auf der Packung nachlesen, wie viel Zucker im Produkt steckt.“Zudem gibt er zu bedenken, dass Zucker einer von vielen Energieträ­gern ist. Reduziert ein Produzent den Zuckergeha­lt in einem Produkt, muss er zu einem anderen Energieträ­ger greifen. Etwa Fett, das noch mehr Kalorien hat als Zucker, so König.

Konsum sinkt

Tatsächlic­h ist der Pro-Kopf-Verbrauch von Zucker in Österreich in den vergangene­n zwanzig Jahren pro Kopf von 41 auf rund 33 Kilogramm gesunken. Damit könne er nicht schuld an den

aktuellen Figurprobl­emen sein, argumentie­ren Branchenve­rtreter gebetsmühl­enartig.

Weltweit steigt der Verbrauch aber Jahr für Jahr um ein bis zwei Prozent. „Das entspricht in etwa dem globalen Bevölkerun­gswachstum “, relativier­tMari hart und beziffert den weltweiten Verbrauch mit 180 Millionen Tonnen im Jahr.

„Der Zuckerkons­um in Österreich ist in den vergangene­n zwanzig Jahren gesunken.“

Johann Marihart Agrana-Chef

„Umfassende Langzeitst­udien scheitern in der Realität schlicht an der Finanzieru­ng.“

Jürgen König Ernährungs­wissenscha­ftler

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Viele Produzente­n reduzieren Zucker in den Rezepturen

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