Wettlesen ohne Herbert Prohaska
Der erste Tag beim Bachmann-Preis: Ein Loch, ein weißer Afrikaner, Sterben – und ein wenig Groove.
Fünfeinhalb Stunden Bachmann-Preis-Wettlesen pro Tag sind ... hart. Selbst wenn man von der Fußball-WM geeicht ist. Der Bachmann-Preis besteht aus Worten und Wörtern. Sehr, sehr vielen Worten und Wörtern. Und es gibt keinen VideoSchiedsrichter, keine Zeitlupen-Analyse und keinem Herbert Prohaska, obwohl das einen ganz eigenen Witz hätte: „Ja gut, ich sage mal, ich finde dem Text nicht so gelungen...“
Das Ritual ist immer gleich: Zuerst ist der Autor am Wort, und die Jury muss zuhören. Danach ist die Jury am Wort, und der Autor muss zuhören. (Das „danach“dauert meistens länger.)
Eröffnet wird der Wettbewerb von der einzigen österreichischen Schriftstellerin, Raphaela Edelbauer. Ihr Text geht von der Seegrotte in der Hinterbrühl aus, wo KZ-Häftlinge geschunden und ermordet wurden. In einer unbestimmten Zukunft unterhöhlt das „Loch“bereits die gesamte Gemeinde – eine Metapher für Schuld. Die sehr detailreichen Beschreibungen geologisch-technischer Vorgänge ermüden ein wenig. Die Jury ist sich nicht ganz sicher: Der Text ist gut, aber auch irgendwie ... dings.
Jurorin Hildegard Keller formuliert das so: „Der Text hat neben vielem Gelungenen starke Fragezeichen.“Juror Klaus Kastberger sagt, der Text sei „in keinster Weise überladen“(kein, keiner, am keinsten?).
Und dann fällt der beste Satz es ersten Tages. Jurorin Nora Gomringer sagt: „Alle Männer sind Auffüllungstechniker.“Großes Gelächter im Publikum (das ahnt: viele solche Gelegenheiten gibt es nicht).
Der zweite Text kommt von der Schweizerin Martina Clavadeschka und lässt eine Tote sprechen: Eine Frau rekapituliert ihr hartes Leben und sieht den Tod als Verwandlung in einen Schmetterling. Großartiger Satz: „Sterben ist Schwerstarbeit.“Die Jury ist sich natürlich nicht einig. Hubert Winkels diagnostiziert „gewöhnungsbedürftigen Quietismus.“Ein Problem, das wir alle kennen.
Danach liest Stephan Lohse die mehrdeutige Geschichte eines jungen Verlierers, der sich wünscht, Afrikaner zu sein.
Inse Wilke ist begeistert, Stefan Gmünder auch, Nora Gomringer auch, Hildegard Keller, Hubert Winkels, Klaus Kastbeger und Michael Wiederstein sind sich nicht sicher.
Als nächste stellt Anna Stern aus der Schweiz ihren Text vor: Ein Gedankenstrom rund um die Situation, dass ein Mann am Bett seiner schwer verletzten, schwangeren Frau wacht. Insa Wilke analysiert: Das sei ein Text über verschiedene Arten der Trauer. Die Jury ist jedenfalls ratlos – was man beim Zuschauen durchaus als beruhigend empfindet – auch die wissen nicht immer alles. Klaus Kastberger erzählt von seiner Gefühlsdrüse.
Stefan Gmünder sagt einen sehr schönen Satz: „Man soll nicht alles glauben, was man denkt.“
Zum Abschluss des ersten Tages las der Deutsche Joshua Groß eine „Szene bei einem Basketballspiel“(was so nicht stimmte, es ging um drogenbefeuerte erotische Begegnungen am Rand eines Basketballspiels. Hildegard Keller „mag den Sound, es ist ein Text mit Groove“, und damit hat sie sehr recht. Es war genau genommen der einzige Text des Tages, der Groove, Rhythmus, Rock ’n’ Roll zu bieten hatte.