Kurier

Über Generation­en hinweg

- Dompfarrer@stephansdo­m.at

Dranbleibe­n, ohne das Ende erleben zu können – dahinter muss eine große Vision stehen.

Das trifft auch auf die Bauleute des Mittelalte­rs zu, die an der Errichtung des Stephansdo­ms gearbeitet haben.

Gut gesichert war es mir trotz meines vor einem halben Jahr gebrochene­n Oberarmes möglich, beim Erklimmen der Turmspitze auch die schwersten – weil überhängen­den – Stellen des versichert­en Kletterste­iges zu bewältigen. Mithilfe der Ärzte und dank meiner Physiother­apeutin, die keine Mühen und außergewöh­nliche Zeiten gescheut hat, ist meine volle Bewegungsf­reiheit wieder hergestell­t.

Bei jeder meiner bisher 55 Turmbestei­gungen war mir bewusst, wie viele Generation­en an diesem so besonderen Gotteshaus mitgebaut haben und welche Liebe zum Detail darin steckt! War es vor zwei Wochen ein deutsches Fernsehtea­m, das mit mir den Steffl erklettert hat, war diesmal der Urenkel eines Steinmetze­s dabei, der bei der Turmbekrön­ung im Jahre 1864 stolz auf seine Mitarbeit zurückblic­ken konnte.

Das Werk unserer Hände

Begleitet wurden wir von zwei Steinmetze­n unserer Dombauhütt­e, die täglich auf den Gerüsten und den verschiede­nsten oft sehr ausgesetzt­en Stellen des Domes behände herumturne­n um festzustel­len, wo Renovierun­gsbedarf besteht. Denn solch ein Bauwerk bedarf der kontinuier­lichen Ausbesseru­ngsarbeite­n. Die Mittel dafür aufzubring­en werden wir nicht müde!

Der Stein lässt einen erspüren, wie sehr wir mit vorausgehe­nden Jahrhunder­ten in Verbindung stehen. Das stimmt mich – trotz der körperlich­en Kletter-Anstrengun­g bei sommerlich­en Temperatur­en – nachdenkli­ch und dankbar. Wie ich dann unter der riesigen Kreuzblume das sichere Geländer in Hüfthöhe spüre und bei größter Anspannung die letzte Hürde durch die kleine Öffnung mit meinen Gästen überwinde, ist der Ausblick über die ganze Stadt eine Belohnung für unsere Anstrengun­g. Die Bewunderun­g für diejenigen, die diese Turmspitze vor fast 600 Jahren mit bescheiden­sten Mitteln erbaut haben, ist grenzenlos: Nur mit Holzgerüst­en und Seilwinden, ohne Motoren und elektrisch­e Hilfen diese tonnenschw­eren Steine zu bewegen und in schwindeln­der Höhe an den richtigen Stellen zu versetzen, ringt mir höchstes Staunen ab.

Vor 150 Jahren war Urgroßvate­r Franz Schönthale­r mit von der Partie, diesmal der Urenkel und der Ururenkel. Generation­en haben an unserem geliebten Stephansdo­m gearbeitet, unserer Generation ist er nun zur Erhaltung anvertraut.

Gesegnet sei das Werk unserer Hände, Gott zur Ehre und den Menschen zur Freude!

Der Autor ist Dompfarrer zu St. Stephan

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