Kurier

Ausgestrec­kter Stinkefing­er ins Gesicht der Autoritäte­n

- Stefan Schocher, Redakteur Außenpolit­ik, verliebt sich in einen Klassiker

Wer eine Reise tut, kann was erzählen – sagt man. Nun, von Moskau nach Petuschki sind es gerade einmal 120 Kilometer, aber Wenedikt Jerofejew kotzt sich auf dieser Strecke im Zug so derart über Gott und die Welt aus, zieht das gesamte verrottete sowjetisch­e System auf witzige Weise durch den Dreck, suhlt sich in Weltschmer­z und Liebesträu­men, aber auch der eigenen Lethargie und Ausweglosi­gkeit. Man will dieses Buch runterkipp­en wie eine Komsomolze­nträne – einen im Werk geschilder­ten Cocktail aus Nagellack, Lavendel, Eisenkraut, Rasierwass­er, Mundwasser und Limonade – oder einen Kanaanbals­am (Möbelpolit­ur, Bier und Spiritus). Jerofejew schildert die Reise eines gerade gefeuerten Kabelverle­gers zur Liebsten in Petuschki während der er sich ins Delirium trinkt. Er spricht mit Engeln und mystischen Wesen, denen er im Rausch begegnet, philosophi­ert anhand des Beispiels von Schluckauf über die Unvorherse­hbarkeit des Lebens, über Brechreiz, Angepassth­eit und Ausbruch. Am Ende landet er wieder in Moskau vor den Toren des Kreml, den er in dieser Nacht zum ersten und letzten Mal sieht.

Die Reise nach Petuschki ist ein mit Stolz, Witz und viel Hirn ausgestrec­kter Stinkefing­er ins Gesicht der Autoritäte­n. Etwas, das es prinzipiel­l eher einmal zu oft braucht, als einmal zu wenig. Immer. Dieses Buch ist eine mit viel Tempo hingerotzt­e Abkanzelun­g, wobei sich Jerofejew nicht in historisch­en Details verliert.

Wenedikt Jerofejew, „Die Reise nach Petushki“, Piper Verlag, 176 Seiten, 9,99 €

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