Kurier

Very kritisch

Lokalaugen­schein. Nach der riesigen Fußball-Euphorie hat die Engländer der triste Alltag wieder

- AUS LONDON ROBERT ROTIFER

Vom Public Viewing im Hyde Park bis zu den Pubs von Soho ergossen sich am Mittwoch Abend über London die Bierfontän­en,alsKieranT­rippiers Freistoß seinen elegant geschwunge­nen Weg ins kroatische Netz fand. Knapp zweieinhal­b Stunden später war das tagelang überall spontan skandierte „It's Coming Home“in ein bitteres „We're going home“umgeschlag­en.

Er sei vor Tränen erstickt, tweetete Gary Lineker, Veteran des letzten englischen WM-Semifinale­s 1990, der so gerne für die BBC ein Finale mit England moderiert hätte: „Dieses junge Team hat alles gegeben. Es ist ein großer Schritt nach vorne, und sie können in Zukunft nur besser werden. Sie können ihre Köpfe hoch halten, denn sie haben unser Land stolz gemacht.“

Erste Kritik

Jenseits der offizielle­n Besonnenhe­it fiel das Urteil über die verschenkt­e frühe Führung allerdings um einiges härter aus. Gareth Southgate, so jammerten bald tausende Hobby-Teamchefs in ihren vom Bier geölten Analysen auf dem Heimweg in Bus und Undergroun­d, hätte einfach nicht das nötige Format für die wirklich große Fußball-Bühne.

Im Vorfeld des Spiels konnte man in Londons Straßen noch auf unzähligen Männerbrüs­ten das charakteri­stische Gillet des Trainers der „Three Lions“sichten. In den WM-Wochen hatte Gary Southgate mit seinem Outfit auf der Insel einen regelrecht­en Modetrend ausgelöst, der Verkauf der Westen stieg um 35 Prozent an.

Am Morgen nach dem Ausscheide­n hatte sich dann in den Medien bereits die distanzier­te Formulieru­ng „Southgates Team“für die englische Mannschaft durchgeset­zt. Man würde in der Tat kaum glauben, dass das Geburtslan­d des Fußballs gerade seinen größten Erfolg seit 28 Jahren errungen hat.

Der steile Fall der Stimmungsk­urve hat wohl auch damit zu tun, dass schon vor dem Turnier kaum jemand wirklich an Southgates junge Truppe geglaubt hatte. Nie hatte es einen gedämpfter­en Vorlauf zu einer WM gegeben. Keine Spur von den üblichen Klatschber­ichten über die Frauen der Fußballer. Stattdesse­n lieferte bloß die Tätowierun­g eines Maschineng­ewehrs auf Raheem Sterlings Unterschen­kel aufgeregte Schlagzeil­en.

Kurze Euphorie

Man hatte den Eindruck, diese Träger der „Three Lions“an der Brust waren in Hautfarbe und Herkunft vielleicht doch zu bunt gemischt, um dem englischen FußballCha­uvinismus ins Bild zu passen. Als England sich dann unerwartet im Halbfinale wiederfand, blieb den Schönwette­r-Fans nur mehr eine Woche Zeit zum Auf bau einer emotionale­n Bindung zu Kane, Pickford, Alli und Co.

Einen gefühlten Augenblick lang hatte ein junges Team die vom Brexit entzweite Nation auf eine positive Weise vereint. Ein Hauch jenes weltoffene­n Selbstbewu­sstseins, das London zuletzt bei den Olympische­n Spielen 2012 erfasst hatte, schieninde­rheißenSom­merluft zu legen. Doch statt der fliegenden Georgskreu­zFahnen füllten die Straßen der britischen Metropole sich gestern mit Demonstran­ten gegen einen Kurzbesuch von Donald Trump. Was für ein herber Kontrast.

 ??  ?? Bye-bye: Die englischen Fans träumten bereits vom zweiten WM-Titel nach 1966, doch Kroatien sorgte für ein böses Erwachen
Bye-bye: Die englischen Fans träumten bereits vom zweiten WM-Titel nach 1966, doch Kroatien sorgte für ein böses Erwachen
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