Very kritisch
Lokalaugenschein. Nach der riesigen Fußball-Euphorie hat die Engländer der triste Alltag wieder
Vom Public Viewing im Hyde Park bis zu den Pubs von Soho ergossen sich am Mittwoch Abend über London die Bierfontänen,alsKieranTrippiers Freistoß seinen elegant geschwungenen Weg ins kroatische Netz fand. Knapp zweieinhalb Stunden später war das tagelang überall spontan skandierte „It's Coming Home“in ein bitteres „We're going home“umgeschlagen.
Er sei vor Tränen erstickt, tweetete Gary Lineker, Veteran des letzten englischen WM-Semifinales 1990, der so gerne für die BBC ein Finale mit England moderiert hätte: „Dieses junge Team hat alles gegeben. Es ist ein großer Schritt nach vorne, und sie können in Zukunft nur besser werden. Sie können ihre Köpfe hoch halten, denn sie haben unser Land stolz gemacht.“
Erste Kritik
Jenseits der offiziellen Besonnenheit fiel das Urteil über die verschenkte frühe Führung allerdings um einiges härter aus. Gareth Southgate, so jammerten bald tausende Hobby-Teamchefs in ihren vom Bier geölten Analysen auf dem Heimweg in Bus und Underground, hätte einfach nicht das nötige Format für die wirklich große Fußball-Bühne.
Im Vorfeld des Spiels konnte man in Londons Straßen noch auf unzähligen Männerbrüsten das charakteristische Gillet des Trainers der „Three Lions“sichten. In den WM-Wochen hatte Gary Southgate mit seinem Outfit auf der Insel einen regelrechten Modetrend ausgelöst, der Verkauf der Westen stieg um 35 Prozent an.
Am Morgen nach dem Ausscheiden hatte sich dann in den Medien bereits die distanzierte Formulierung „Southgates Team“für die englische Mannschaft durchgesetzt. Man würde in der Tat kaum glauben, dass das Geburtsland des Fußballs gerade seinen größten Erfolg seit 28 Jahren errungen hat.
Der steile Fall der Stimmungskurve hat wohl auch damit zu tun, dass schon vor dem Turnier kaum jemand wirklich an Southgates junge Truppe geglaubt hatte. Nie hatte es einen gedämpfteren Vorlauf zu einer WM gegeben. Keine Spur von den üblichen Klatschberichten über die Frauen der Fußballer. Stattdessen lieferte bloß die Tätowierung eines Maschinengewehrs auf Raheem Sterlings Unterschenkel aufgeregte Schlagzeilen.
Kurze Euphorie
Man hatte den Eindruck, diese Träger der „Three Lions“an der Brust waren in Hautfarbe und Herkunft vielleicht doch zu bunt gemischt, um dem englischen FußballChauvinismus ins Bild zu passen. Als England sich dann unerwartet im Halbfinale wiederfand, blieb den Schönwetter-Fans nur mehr eine Woche Zeit zum Auf bau einer emotionalen Bindung zu Kane, Pickford, Alli und Co.
Einen gefühlten Augenblick lang hatte ein junges Team die vom Brexit entzweite Nation auf eine positive Weise vereint. Ein Hauch jenes weltoffenen Selbstbewusstseins, das London zuletzt bei den Olympischen Spielen 2012 erfasst hatte, schieninderheißenSommerluft zu legen. Doch statt der fliegenden GeorgskreuzFahnen füllten die Straßen der britischen Metropole sich gestern mit Demonstranten gegen einen Kurzbesuch von Donald Trump. Was für ein herber Kontrast.