ANLEIHEN: „MEHR CHANCEN ALS AKTIEN“
Raiffeisen-Chefanalyst Gunter Deuber über die hohe Inflation, neue Chancen mit Anleihen und sinkende Immobilienpreise.
»Die Inflation ist zäher als erwartet, die Wirtschaft kämpft mit einer Rezession. Wie ist der Ausblick auf das Jahr 2024? Gunter Deuber: Eine Stagflation, also die Kombination aus Inflation und niedrigem Wachstum, zieht sich gewöhnlich länger hin, also zwei bis drei Jahre. Es wird kommendes Jahr in Europa und Amerika nur schwaches Wachstum geben. Aber es ist kein tiefer Schock zu erwarten. Das erlaubt es Notenbanken, die Zinsen länger hoch zu halten. Geopolitische Risiken im Nahen Osten bestärken dieses Szenario, solange hier keine Komplett eskalation stattfindet.
Die Renditen langlaufender Anleihen sind vor dem Hintergrund von Zinssorgen
im Herbst stark angestiegen und haben Aktienmärkte belastet. Gibt es 2024 Hoffnung auf sinkende Zinsen? Erste moderate Senkungen sind möglich und wenn, dann zuerst in den USA und in Europa ab dem zweiten Halbjahr. Aber es geht nicht nur um Zinsen. EsgibtimEurosystemnocheineÜberschussliquidität von 3.500 Milliarden Euro durch den EZB-Kauf von Staatsanleihen. Die Frage ist, wie und wann die EZB dem Markt diese Liquidität entziehen will. Das EZB-Staatsanleihedepot rascher zu schrumpfen ist politisch nicht opportun. Darüber könnte 2024 diskutiert werden.
Was bedeutet das für Anleger und Schuldner?
Entscheidend ist, dass der Realzins nach Abzug der Inflation noch negativ ist. Im kommenden Jahr werden wir durch den Teuerungsrückgang in Österreich auf knapp unter fünf Prozent und in der Eurozone unter drei Prozent wieder positive Realzinsen am Kapitalmarkt sehen. Das ist das erste Mal seit 2013 und hat substanzielle Implikationen, auch auf Immobilien.
Anleiherenditen sind heuer deutlich gestiegen. Aber gute Zinsen wurden durch Kursverluste oft wieder aufgefressen, weil niedriger verzinste Alt papiere unter Druck kamen.
Die Trendwende ist da, auch wenn positive Effekte für Anleger noch aufgeschoben sind. Anleihen haben heuer gar stärkere Kursschwankungen erlebt als Aktien, was auffallend ist. Vor allem bei längeren Staatsanleihen hat man auf Grund der aggressiven Positionierung in Richtung Zinssenkungen am Markt noch verloren. Mit riskanteren Euro-Hochzinsanleihen hat man heuer schon Gewinne erzielt.
Und 2024?
Anleihen sind interessant. Bei langen Laufzeiten sehen wir in den USA Potenzial, in Europa bevorzugen wir Laufzeiten bis zu fünf Jahren. Wir rechnen auch mit einem positiven Aktienmarkt. Während die Unternehmensgewinne heuer im Schnitt fast konstant blieben, wird 2024 im Weltaktienindex MSCI World wieder mit fast zehn Prozent mehr Profit gerechnet. Am Aktienmarkt sehen wir
Ende 2024 im Durchschnitt um neun Prozent höhere Indizes. Das ist für den Aktienmarkt nicht besonders hoch und nicht so viel mehr als mit Anleihen. Das aktuelle Zinsniveau beschränkt das Aufwärtspotenzial von einigen Aktien. Zudem sind Staatsanleihen mit aktuellen Verzinsungen ein guter Hedge für geopolitische Risiken. Bei einer Eskalation im Nahen Osten droht eine globale Rezession mit stärker fallenden Zinsen und Zuflüssen in sichere Häfen.
Wie sind die Aussichten für die Wiener Börse?
Der heimische Aktienmarkt ist so unterbewertet wie seit Jahren nicht. Der Abstand des ATX zum Stoxx Europe 600, dem Index der 600 größten Werte Europas, hat sich vergrößert. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis lag beim ATX Mitte Oktober bloß bei 6,7. Dafür liegt die Dividenden rendite bei sechs Prozent. Das Problem: Klassische Value-Aktien, die in Wien dominieren, sind im aktuellen Zinsumfeld mittelfristig begrenzt. Firmen mit hohem Wachstum sind bevorzugt.
Die vor allem in den USA zu finden sind. Ja, bei großen Technologie-Unternehmen, dort spielt das Thema Künstliche Intelligenz (KI) eine Rolle. KI braucht dann wieder mehr Rechnerkapazitäten und Cloud-Computing. Und diese Firmen haben das im Angebot und durch Abos ein konservatives Element in ihren Geschäftsmodellen, welches rezessionsresistent ist. Dieser
Mix macht die US-Börse Nasdaq langfristig attraktiver als Europa. Außerdem haben viele Tech-Konzerne keine Schulden oder sogar Cash-Guthaben. Auch aus geopolitischen Gründen wird US-Technologie gegenüber der chinesischen Konkurrenz wichtiger.
Womit rechnen Sie mittelfristig?
Wir erwarten in den kommenden fünf Jahren für ein breit gestreutes AnleihedepotausZinskuponsundKursentwicklung insgesamt zwischen acht bis neun Prozent Rendite pro Jahr, bei den Aktien eher sechs bis sieben Prozent.
Wie geht es bei den Immobilien weiter, was wird sich bei den Kreditzinsen tun? Über Jahre war Verschuldung billig, das hat zu Immobilien-Preisblasen geführt – nicht nur in Österreich. Deswegen wird die Anpassungsphase dort länger dauern. Beim 3-Monats-Euribor als wichtige Basis für variable Zinsen sehen wir auch 2025 leider noch Werte über drei Prozent. Das heißt, wenn es gut geht, spare ich mir einen Prozentpunkt gegenüber jetzt, bin aber weit entfernt von den Zinsen vor zwei Jahren. Es wird die Aufgabe der Banken sein, gemeinsam mit den Kunden durch diese schwierige Phase zu kommen. Positiv ist, dass die nominellen Einkommen bis zum Jahr 2025 um 20 Prozent zulegen. Das sollte zusammen mit leicht sinkenden Zinsen die Leistbarkeit für Neukunden verbessern.
Wie entwickeln sich Immobilienpreise? Immobilien haben einen langen Zyklus: Die Jahre 2023 bis 2025 sehen wir als Jahre der Konsolidierung am Immobilienmarkt und in der Branche. Für 2023/2024 erwarten wir im Schnitt zehn Prozent Preisrückgang. Aber Vorsicht: Es gibt große regionale Unterschiede und eine Markt-Zweiteilung. Neubau ist noch preisstabil, in Wien gar steigend, bei gebrauchten Immobilien sehen wir Preisabschläge von 20 Prozent. In schlechten Lagen und bei energie ineffizienten Gebäuden kann es mehr werden. Rückläufige oder stagnierende Preise werden uns noch bis ins Jahr 2025 beschäftigen. Dann sehen wir, ob wir einen Boden finden. Es gab mit Spanien und Irland Länder, in denen es weiter und länger nach unten ging. – MARTIN KWAUKA