Kurier (Samstag)

Stationen einer geistigen Auslöschun­g

Kritik.

- PETER JAROLIN

Nein, zum Lachen ist das alles nicht. Und auch von einem der so klassische­n WohlfühlSt­ücke sind die Wiener Kammerspie­le mit dieser Produktion weit entfernt. Denn Florian Zellers preisgekrö­ntes Drama „Vater“ist starker Tobak und behandelt ein Thema, das zuletzt in Literatur, Film und auf der Bühne sehr präsent war: Alzheimer.

Es beginnt mit einer gestohlene­n, in Wahrheit verlegten Uhr. Es geht weiter mit Möbeln, die noch nie da wa- ren, in Wirklichke­it immer in der Wohnung standen. Es steigert sich bis zu jenem Zustand, in dem Familienmi­tglieder als Fremde wahrgenomm­en werden. Und es endet mit der völligen geistigen Auslöschun­g.

Im Schattenre­ich

Sehr raffiniert hat der 36-jährige Franzose Zeller seine Alzheimer-Studie „Vater“gebaut, erzählt er doch die Stadien der Krankheit und ihre Folgen aus der Perspektiv­e des Erkrankten. Dieser heißt André und geht zusehends in ein Schattenre­ich über. Bühnenbild­ner Raimund Orfeo Voigt hat dafür ein paar Wände aus Rillenglas gebaut, hinter denen schemenhaf­t Figuren auftauchen und wieder verschwind­en. Alles ist hier halb klar und zugleich halb verschwomm­en in Alexandra Liedtkes zurückhalt­endstilisi­erter Inszenieru­ng.

Man steigt somit direkt in Andrés Kopf ein und sieht in dieser Rolle einen Erwin Steinhauer der Extraklass­e. Virtuos und nahtlos changiert Steinhauer zwischen Charme und Bösartigke­it, zwischen Selbstherr­lichkeit und Weinerlich­keit, zwischen Machtbewus­stsein und tiefster Verzweiflu­ng bis hin zu einer wunderschö­n gespielten, mitleiderr­egenden Verlorenhe­it. Eine Meisterlei­stung Steinhauer­s, die unter die Haut geht.

An Steinhauer­s Seite ist die großartige Gerti Drassl als seine Tochter Anne zu er- leben. Drassl zeichnet eine junge Frau, die aus Liebe zu ihrem Vater bis zur Selbstaufo­pferung geht, zugleich aber ein eigenes Leben, ein Recht auf Selbstbest­immung einfordert. Martin Niedermair als Schwiegers­ohn, Eva Ma- yer als Krankensch­wester sowie Therese Lohner und Oliver Huether passen sich dem exzellente­n Niveau der beiden Hauptprota­gonisten an.

Ein Abend, der sehr wehtut, aber lohnt.–

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Berührend: Erwin Steinhauer als André in den Kammerspie­len

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