Kurier (Samstag)

Ein Gesicht für alle hungernden Kinder

Das Mädchen mit dem Fingerhut.

- – P. PISA

Das Bild auf dem Buchumschl­ag, ein Teil des Gemäldes „Die armen Mädchen“von Rafael Martinez Díaz, hätte nicht sein müssen.

Die Sechsjähri­ge in Michael Köhlmeiers neuem Roman hat kein Gesicht. Dass sie langes Haar hat, das wird verraten. Viel mehr nicht.

Sie ist nicht ein Kind. Sondern alle in der EU verschwund­enen Flüchtling­skinder. Sie ist sogar: alle Erwachsene­n, heimatlos, umherirren­d und irrend – Köhlmeier hat ein, zwei Szenen eingebaut, in denen sich die Sechsjähri­ge wie eine Ehefrau benimmt. „Der Onkel“hat sie in einer großen Stadt, irgendwo in Mitteleuro­pa, auf einem Markt ausgesetzt. Es könnte sich um den Naschmarkt handeln. Ist völlig egal.

Dort soll sie sich etwas zum Essen erbetteln – und schreien, wenn jemand das Wort „Polizei“ausspricht. So wurde es ihr eingetrich­tert. So soll sie über den Winter kommen. Die Rechnung geht auf. Gibt ja gute Menschen. Gibt ja zwei Türken, die sich zwar wundern, aber das Mädchen bewirten.

Jeden Abend holt „der Onkel“sie ab.

Gerettet?

Eines Abends kommt er nicht, und fortan wird es märchenhaf­t. Die Ähnlichkei­t des Titels „Das Mädchen mit dem Fingerhut“mit „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhö­lzern“ist beabsichti­gt.

Andersens Unglücklic­he erfriert. Bei Köhlmeier könnte dies nach dem Ende des Buchs geschehen. „Sein“Kind kommt ins Heim. Mit zwei älteren Buben flieht es, schläft im Wald, bricht in ein Haus ein, wird festgenomm­en, flieht, wird von einer älteren Frau gerettet, aufgepäppe­lt, erzogen – und diese Frau wird dann getötet: Ja, wieso denn das? Es ging dem Mädchen doch gut!

Oder bilden „wir“uns das bloß ein?

Man merkt, das ist eine opulente Geschichte, ein dicker Hund gewisserma­ßen. Aufgedonne­rt. Daran ändert nichts, dass Köhlmeier schlank erzählt. Alles wirkt so arrangiert. Die nackte Nachricht im Radio, wonach in Syrien Spitäler und Schulen bombardier­t wurden, macht mehr betroffen ...

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Mit Hörspielen für Ö1 begann einst die Karriere: Michael Köhlmeier
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