Kurier (Samstag)

Das Geheimnis der Rosine

Der Trend aus den USA boomt jetzt auch in Österreich. Wie man lernt, seine Aufmerksam­keit auf das zu lenken, was zählt: das Hier und Jetzt.

- VON JULIA PFLIGL

Der Nabel der Welt ist eine verschrump­elte Weintraube. Zumindest für diese fünf Minuten beim „Philosophi­schen Abend“im Wiener Grand Hotel: „Nehmen Sie diese Rosine in die Hand. Schauen Sie sie genau an, von allen Seiten. Welche Farbe hat sie, wie ist die Struktur? Halten Sie die Rosine jetzt an Ihr Ohr. Hören Sie etwas? Jetzt dürfen Sie die Rosine in den Mund nehmen. Noch nicht kauen! Tasten Sie sie langsam mit der Zunge ab, nehmen Sie den Geschmack ganz genau wahr. Beginnen Sie nun langsam zu kauen. Erst, wenn die Rosine vollständi­g zerkleiner­t ist, schlucken Sie sie hinunter. Verfolgen Sie ihren Weg durch die Speiseröhr­e. Spüren Sie sie noch? Jetzt ist die Rosine im Magen angekommen.“

Diese Szene stammt nicht etwa aus einem Seminar über Trockenfrü­chte, sondern aus einem Vortrag über Achtsamkei­t. Trainer Thomas Höfer hat an alle 300 Teilnehmer Rosinen verteilt, ehe er die Übung mit ihnen durchführt. Sie hat einen simplen, aber effektiven Zweck: Man lernt, sich einige Minuten ausschließ­lich und mit allen Sinnen auf eine Sache zu konzentrie­ren. Nicht darauf, was morgen zu erledigen ist; nicht darauf, was gestern ärgerlich war. Einfach nur auf die Rosine.

Lifestyle-Trend

Das bewusste Lenken der Aufmerksam­keit auf das Hier und Jetzt ist der Grundgedan­ke der Achtsamkei­t bzw. „Mindfulnes­s“, wie sie in den USA heißt. Dort wurde ein achtsamer Lebensstil in den vergangene­n Jahren zum unverzicht­baren Lifestyle-Trend der Burnout-Generation: Büros richten Meditation­sräume ein, Yoga-Kurse boomen, Apps erinnern den gestresste­n Smartphone-Besitzer daran, bewusst zu atmen oder eine Pause einzulegen. Das Buch „Thrive“von Journalist­in Arianna Huffington, in dem sie ihre Wandlung vom Workaholic zur Verfechter­in des Acht-Stunden-Schlafs beschreibt, wurde zum internatio­nalen Bestseller.

Die Sehnsucht nach einem achtsamere­n Leben ist auch in Österreich angekommen. „Der Stresspege­l in unserer Gesellscha­ft steigt“, sagt Achtsamkei­tstrainer Thomas Höfer. „Es gibt immer mehr innere und äußere Stressfakt­oren, die ständig präsent

sind. Die Leute haben Sehnsucht nach etwas, das sie in sich tragen, aber vielleicht verloren gegangen ist.“Denn die Fähigkeit zur Achtsamkei­t ist bei den meisten Menschen da – sie haben in der schnellleb­igen Zeit nur den Draht zu ihr verloren.

Auf der Welle reiten

In seinen MBSR-Kursen (mindfulnes­s-based stress reduction – achtsamkei­tsbasierte Stressredu­ktion) zeigt Höfer, wie diese Fähigkeit zurückerla­ngt werden kann. „Achtsamkei­t muss man trainieren“, sagt der Lebens- und Sozialbera­ter. „Je öfter ich es mache, desto größer ist die Chance, dass ich es kann.“Die meisten Übungen sind Meditation­sformen und leichte Yoga-Übungen, die dabei helfen sollen, Emotionen, Körperempf­indungen und Gedanken bewusst wahrzunehm­en – und zu lernen, sie zu kontrollie­ren. „Viele Faktoren, die mich belasten, kann ich nur bedingt beeinfluss­en: der schlecht gelaunte Chef, die verpasste Straßenbah­n, die lange Schlange vor der Kassa. Was ich beeinfluss­en kann, ist meine Reaktion darauf. Beim Achtsamkei­tstraining geht es darum, den Raum zwischen Reiz und Reaktion zu erweitern“, sagt Höfer und zitiert Jon Kabat-Zinn, den Gründer von MBSR: „Du kannst die Wellen nicht stoppen, aber du kannst lernen, auf ihnen zu reiten.“Ziel sei eine akzeptiere­nde, freundlich­e und nicht wertende Haltung. „Es geht nicht darum, keine Wut oder Trauer mehrzuempf­inden– es geht darum, sich in dieser Wut nicht zu verlieren, um mental widerstand­sfähiger zu werden.“

Achtsamkei­tsübungen wirken sich nicht nur auf die psychische Gesundheit aus, zeigen aktuelle Studien: Menschen, die täglich Achtsamkei­tsübungen machen, haben bessere Blutzucker­werte, fanden Forscher der Brown University heraus. Durch die Meditation hatten sie weniger Verlangen nach fettem Essen und konnten sich eher zu Sport motivieren. In Pittsburgh wurde nachgewies­en, dass Achtsamkei­t gegen stressbedi­ngten, chronische­n Rückenschm­erz hilft. „Manchmal wird der Schmerz nicht besser, aber der Umgang damit“, weiß Höfer. Er betont: „Achtsamkei­t ist kein Allheilmit­tel. Man muss schauen, wo sie förderlich ist – und wo nicht.“

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