Kurier (Samstag)

Venezuela steuert auf den Kollaps zu

Zu wenig Strom, Lebensmitt­el und Medikament­e. Das reiche Ölland steht vor dem Kollaps

- AUS CARACAS MANUEL TOVAR*

Im reichen Ölland mangelt es an allem: Essen, Strom, Medizin. Reportage aus Caracas

Es ist schockiere­nd, einen Vierjährig­en hellauf begeistert zu sehen, nur weil seine Mutter Milch gefunden hat – und er eine Tasse Kakao trinken kann. Oder einen Siebenjähr­igen sagen zu hören, dass er die Regierung nicht mag, „weil die alles falsch machen, und meine Eltern jetzt kein Ketchup mehr im Geschäft kaufen können“.

Als ich ein Bub war, habe ich nie an Politik gedacht. Ich habe Kinder in den Straßen von Caracas betteln sehen. Aber diese Kinder wollten nur Geld, sie haben nicht gehungert. Jetzt sehe ich Leute – Kinder, Erwachsene, Alte – die um Geld bitten. Aber wie viel sie auch erbetteln, es reicht nie, um Essen zu kaufen. Erstens, weil der Wert des Geldes rasend verfällt. Und zweitens, weil es in den Geschäften ohnehin fast nichts mehr zu kaufen gibt.

Wenn ich auf die Straße gehe, ist es unmöglich, einen Supermarkt zu sehen, vor dem nicht Menschen in elendslang­en Schlangen warten.

Sie hoffen darauf, Nahrungsmi­ttel mit staatlich regulierte­n Preisen zu finden. Die Regierung von Präsident Maduro hat diese Preise festgesetz­t. Um, wie die Staatsführ­ung sagt, den Leuten zu „garantiere­n“, dass es diese Waren gibt undumzuzei­gen, dass man gegen den „Wirtschaft­skrieg“ankämpfe, den der „nordamerik­anische Imperialis­mus“Venezuela und dessen sozialisti­scher Revolution erklärt habe.

Manchmal gibt es in den Geschäften gar nichts. Nur Gerüchte, dass „irgend etwas“angeliefer­t wurde. Was ist irgend etwas? Milch, Reis, Brot, Zucker, Öl, Butter, Nudeln, Kaffee, Weizen oder Maismehl oder was man so braucht, um „Arepas“zu machen, ein typisches Essen in Venezuela.

Ohne Gerste kein Bier

Wir essen, was wir bekommen. Nicht, was wir wollen. Fleisch und Fisch findet man praktisch gar nicht mehr. Sogar das Bier geht uns aus. Der Polar-Konzern, das größte Privatunte­rnehmen des Landes, begründet das damit, dass die Gerstenvor­räte erschöpft seien. Wegen der Devisenpol­itik der Regierung sieht man sich außerstand­e, weiter Gerstenmal­z aus dem Ausland einzuführe­n – Gerste wächst bei uns nicht. Polar muss die Regierung um Genehmigun­g für Dollars bitten – und die Regierung, die die freie Marktwirts­chaft verabscheu­t, verweigert sie.

Es gibt auch einen riesigen Mangel an Hygieneart­ikeln: Klopapier, Deodorants, Rasierer, Schampoo, Seife und Frauenhygi­ene-Produkte. Wer immer ins Ausland fährt, deckt sich mit allem, was nur möglich ist, ein.

Aber noch viel schlimmer ist der Mangel an medizinisc­hen Produkten. Wegen der fehlenden Devisen und den Schulden bei den Arznei- mittelhers­tellern werden die Medikament­enschränke immer leerer. Dass Menschen an Bluthochdr­uck oder Diabetes sterben, ist schon Routine geworden. Vergangene Woche starb ein achtjährig­er Bub, der auf der Suche nach dem richtigen Medikament von Spital zu Spital pilgerte. Dabei fing er sich ein Bakterium ein, das ihn letztlich tötete. Manche Ärzte sind so verzweifel­t, dass sie Tiermedika­mente bei Menschen anwenden. Frühchen sterben, weil es zu wenig Strom für die Brutkästen gibt.

Kein Licht in den OPs

Die Regierung sieht die Schuld für die Stromknapp­heit beim Klimaphäno­men „El Nino“, das die Trockenhei­t verursacht habe und Venezuelas Wasserkraf­twerke nahezu stromlos ließ. Aber unzählige Berichte belegen, wie die Chavez- und MaduroRegi­erung die Instandhal- tung der Kraftwerke vernachten auch nur reich werden lässigt haben. Und wie die und vergaßen die BevölkeEne­rgieversor­gung seit dem rungsschic­ht, die sie repräJahr 2000 nicht weiter voransenti­eren wollten. Und das getrieben wurde, obwohl die hat die Verzweiflu­ng und Bevölkerun­g wächst. Aber den Verfall der Moral nur ohne Inkubatore­n, Ventilaton­och einmal bestärkt. Jetzt ren oder simples Licht könhaben wir in den Straßen nen Ärzte nicht operieren. der Städte jeden Tag Proteste. Die Operations­räume sind Aber sie haben nichts veränschmu­tzig, weildert.esnichtgen­ug Desinfekti­onsmittel Wenn ich auf die Straße gibt. gehe, achte ich immer darauf,

Was hat uns an diesen nicht zu telefonier­en – weil Punkt gebracht? man mich sofort überfallen

Die Hoffnung auf einen würde, sobald ein elektronim­essianisch­en Retter ist eine sches Gerät sichtbar wird. AlKonstant­e in den Gedanken le versuchen daheim zu sein, der Venezolane­r. Ende der bevor es dunkel ist. Nach 90er-Jahre war unsere Deacht Uhr auf der Straße zu gemokratie erschöpft, unsere hen, kann sehr gefährlich sein Parteien waren alt und kor– selbst für die Diebe. Es gibt rupt. Dann kam Hugo Chakeine sicheren Orte mehr in vez, ein Mannder Armee, und Caracas, nur weniger gefährman glaubte, dass er die überliche. Nicht nur Kriminelle bordende Kriminalit­ät bestehlen, kidnappen oder tökämpfen könnte. Mit ihm ten. Auch korrupte Poliziskam ein Hoffnungst­räger ten können dich erpressen der Armen an die Macht. Aber oder sogar töten, weil sie etChavez‘ Gefolgsleu­te wollwas haben wollen, was du hast. Präsident Maduro hat noch immer die Unterstütz­ung seiner Hardliner, aber sie werden weniger. Er will unter allen Umständen an der Macht bleiben. Aber die Mehrheit der Menschen hier glaubt, dass es das Beste wäre, um sozialen Aufruhr und blutige Konfrontat­ionen zu vermeiden, uns wählen zu lassen.

* Manuel Tovar ist Journalist bei der unabhängig­en venezolani­schen Tageszeitu­ng El Nacional.

 ??  ?? Kein Geschäft in Venezuela, vor dem nicht Menschen in elendslang­en Schlange warten. Doch nicht nur Alltagsgüt­er sind im Krisenland kaum noch zu haben. Auch Medikament­e gehen aus – mit verheerend­en Folgen
Kein Geschäft in Venezuela, vor dem nicht Menschen in elendslang­en Schlange warten. Doch nicht nur Alltagsgüt­er sind im Krisenland kaum noch zu haben. Auch Medikament­e gehen aus – mit verheerend­en Folgen
 ??  ?? Sondervoll­machten für die Sicherheit­skräfte – immer mehr Proteste
Sondervoll­machten für die Sicherheit­skräfte – immer mehr Proteste
 ??  ?? Präsident Maduro weist jede Schuld an der Krise im Land zurück
Präsident Maduro weist jede Schuld an der Krise im Land zurück

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