Venezuela steuert auf den Kollaps zu
Zu wenig Strom, Lebensmittel und Medikamente. Das reiche Ölland steht vor dem Kollaps
Im reichen Ölland mangelt es an allem: Essen, Strom, Medizin. Reportage aus Caracas
Es ist schockierend, einen Vierjährigen hellauf begeistert zu sehen, nur weil seine Mutter Milch gefunden hat – und er eine Tasse Kakao trinken kann. Oder einen Siebenjährigen sagen zu hören, dass er die Regierung nicht mag, „weil die alles falsch machen, und meine Eltern jetzt kein Ketchup mehr im Geschäft kaufen können“.
Als ich ein Bub war, habe ich nie an Politik gedacht. Ich habe Kinder in den Straßen von Caracas betteln sehen. Aber diese Kinder wollten nur Geld, sie haben nicht gehungert. Jetzt sehe ich Leute – Kinder, Erwachsene, Alte – die um Geld bitten. Aber wie viel sie auch erbetteln, es reicht nie, um Essen zu kaufen. Erstens, weil der Wert des Geldes rasend verfällt. Und zweitens, weil es in den Geschäften ohnehin fast nichts mehr zu kaufen gibt.
Wenn ich auf die Straße gehe, ist es unmöglich, einen Supermarkt zu sehen, vor dem nicht Menschen in elendslangen Schlangen warten.
Sie hoffen darauf, Nahrungsmittel mit staatlich regulierten Preisen zu finden. Die Regierung von Präsident Maduro hat diese Preise festgesetzt. Um, wie die Staatsführung sagt, den Leuten zu „garantieren“, dass es diese Waren gibt undumzuzeigen, dass man gegen den „Wirtschaftskrieg“ankämpfe, den der „nordamerikanische Imperialismus“Venezuela und dessen sozialistischer Revolution erklärt habe.
Manchmal gibt es in den Geschäften gar nichts. Nur Gerüchte, dass „irgend etwas“angeliefert wurde. Was ist irgend etwas? Milch, Reis, Brot, Zucker, Öl, Butter, Nudeln, Kaffee, Weizen oder Maismehl oder was man so braucht, um „Arepas“zu machen, ein typisches Essen in Venezuela.
Ohne Gerste kein Bier
Wir essen, was wir bekommen. Nicht, was wir wollen. Fleisch und Fisch findet man praktisch gar nicht mehr. Sogar das Bier geht uns aus. Der Polar-Konzern, das größte Privatunternehmen des Landes, begründet das damit, dass die Gerstenvorräte erschöpft seien. Wegen der Devisenpolitik der Regierung sieht man sich außerstande, weiter Gerstenmalz aus dem Ausland einzuführen – Gerste wächst bei uns nicht. Polar muss die Regierung um Genehmigung für Dollars bitten – und die Regierung, die die freie Marktwirtschaft verabscheut, verweigert sie.
Es gibt auch einen riesigen Mangel an Hygieneartikeln: Klopapier, Deodorants, Rasierer, Schampoo, Seife und Frauenhygiene-Produkte. Wer immer ins Ausland fährt, deckt sich mit allem, was nur möglich ist, ein.
Aber noch viel schlimmer ist der Mangel an medizinischen Produkten. Wegen der fehlenden Devisen und den Schulden bei den Arznei- mittelherstellern werden die Medikamentenschränke immer leerer. Dass Menschen an Bluthochdruck oder Diabetes sterben, ist schon Routine geworden. Vergangene Woche starb ein achtjähriger Bub, der auf der Suche nach dem richtigen Medikament von Spital zu Spital pilgerte. Dabei fing er sich ein Bakterium ein, das ihn letztlich tötete. Manche Ärzte sind so verzweifelt, dass sie Tiermedikamente bei Menschen anwenden. Frühchen sterben, weil es zu wenig Strom für die Brutkästen gibt.
Kein Licht in den OPs
Die Regierung sieht die Schuld für die Stromknappheit beim Klimaphänomen „El Nino“, das die Trockenheit verursacht habe und Venezuelas Wasserkraftwerke nahezu stromlos ließ. Aber unzählige Berichte belegen, wie die Chavez- und MaduroRegierung die Instandhal- tung der Kraftwerke vernachten auch nur reich werden lässigt haben. Und wie die und vergaßen die BevölkeEnergieversorgung seit dem rungsschicht, die sie repräJahr 2000 nicht weiter voransentieren wollten. Und das getrieben wurde, obwohl die hat die Verzweiflung und Bevölkerung wächst. Aber den Verfall der Moral nur ohne Inkubatoren, Ventilatonoch einmal bestärkt. Jetzt ren oder simples Licht könhaben wir in den Straßen nen Ärzte nicht operieren. der Städte jeden Tag Proteste. Die Operationsräume sind Aber sie haben nichts veränschmutzig, weildert.esnichtgenug Desinfektionsmittel Wenn ich auf die Straße gibt. gehe, achte ich immer darauf,
Was hat uns an diesen nicht zu telefonieren – weil Punkt gebracht? man mich sofort überfallen
Die Hoffnung auf einen würde, sobald ein elektronimessianischen Retter ist eine sches Gerät sichtbar wird. AlKonstante in den Gedanken le versuchen daheim zu sein, der Venezolaner. Ende der bevor es dunkel ist. Nach 90er-Jahre war unsere Deacht Uhr auf der Straße zu gemokratie erschöpft, unsere hen, kann sehr gefährlich sein Parteien waren alt und kor– selbst für die Diebe. Es gibt rupt. Dann kam Hugo Chakeine sicheren Orte mehr in vez, ein Mannder Armee, und Caracas, nur weniger gefährman glaubte, dass er die überliche. Nicht nur Kriminelle bordende Kriminalität bestehlen, kidnappen oder tökämpfen könnte. Mit ihm ten. Auch korrupte Poliziskam ein Hoffnungsträger ten können dich erpressen der Armen an die Macht. Aber oder sogar töten, weil sie etChavez‘ Gefolgsleute wollwas haben wollen, was du hast. Präsident Maduro hat noch immer die Unterstützung seiner Hardliner, aber sie werden weniger. Er will unter allen Umständen an der Macht bleiben. Aber die Mehrheit der Menschen hier glaubt, dass es das Beste wäre, um sozialen Aufruhr und blutige Konfrontationen zu vermeiden, uns wählen zu lassen.
* Manuel Tovar ist Journalist bei der unabhängigen venezolanischen Tageszeitung El Nacional.