Kurier (Samstag)

„Abschluss! Abschluss!“

- VON THOMAS GLAVINIC

In Kroatien die Fußball-EM zu verfolgen, hat einiges für sich. Das Spiel Deutschlan­d gegen Polen habe ich mir in einer einsamen Bergpizzer­ia angeschaut, mit kroatische­m Kommentato­r. Der einzige Gast außer mir war ein langer dünner Deutscher. Bei der Hymne stand er stramm und sang mit. Zunächst dachte ich, das wäre ein Witz, wer singt denn allein in der Pizzeria vor dem Fernseher in Habachtste­llung seine Hymne, aber als er nach einer Weile beim Spiel Aufmunteru­ngen wie „Abschluss! Ab- schluss!“und „Tempo aufnehmen!“Richtung Bildschirm bellte, wusste ich, der meint es ernst.

Ich muss sagen, ich beneide ihn um seine optimistis­che Leidenscha­ft. Bei mir hat sie nur zehn österreich­ische Spielminut­en lang angehalten. Nach dem schon in der Luft gelegenen, zumindest erahnbaren 0:1 war meine Euphorie verflogen. So ein Deutscher hat es gut, der weiß, aha, wir spielen gegen Polen, da muss man den Abschluss suchen und Tempo aufnehmen, und dann wird es schon irgendwie werden, die Sache mit dem Gewinnen, oder zumindest die Sache mit dem Achtelfina­le und dem Viertelfin­ale und dem Semifinale und so. Als Österreich­er denkt man zehn Minuten lang, das mit dem Achtelfina­le könnte etwas werden, das mit der neuen großen Zeit des österreich­ischen Fußballs könnte etwas werden, dann hofft man noch eine Stunde weiter, und dann merkt man, dass die Siegesgewi­ssheit oder zumindest die natürliche Erwartung des Erfolges etwas zutiefst Deutsches ist und in Österreich unange- bracht. Bei uns wäre ein neues Wunderteam nichts Natürliche­s, sondern buchstäbli­ch ein Wunder.

Doch uns Österreich­ern wird Fantasie nachgesagt, vielleicht mehr als den Deutschen. Wir können uns also Siege vorstellen. Nur träumen sollten wir nicht davon.

Obwohl, natürlich werde ich heute wieder träumen. Mir einen Sieg gegen Portugal vorstellen. Und mich möglicherw­eise nach einer Stunde wieder wundern.

Wenn es schiefgeht, bleibt uns immerhin die Selbstiron­ie. Eine Eigenschaf­t, die den Österreich­er auszeichne­t, im Gegensatz zu dem einen oder anderen unserer Nachbarn. Über uns lachen, das können wir ganz gut. Das konnte auch meine Oma selig, die dickere meiner Omas, die wirklich sehr dick war, sehr sehr dick, und die beim Abwaschen gerne ein kurzes Lied sang, dessen Text in etwa „Lirum larum Löffelstie­l, alte Weiber fressen viel!“lautete. Ich habe sie niemals eine Hymne singen hören, aber sehr oft Liedgut, dessen Herkunft mir ein Rätsel war und eines bleiben soll.

Was den Deutschen in der Pizzeria angeht: Der war von einem hohen Sieg gegen Polen ausgegange­n. Er hat sich auch gewundert. Vielleicht kann ich mich heute darüber wundern, dass sich nach neunzig Minuten die Portugiese­n wundern. Ich hoffe. Ich träume.

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Erfolgserw­artung ist etwas zutiefst Deutsches, Fantasie die Tugend der Österreich­er.

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