„Abschluss! Abschluss!“
In Kroatien die Fußball-EM zu verfolgen, hat einiges für sich. Das Spiel Deutschland gegen Polen habe ich mir in einer einsamen Bergpizzeria angeschaut, mit kroatischem Kommentator. Der einzige Gast außer mir war ein langer dünner Deutscher. Bei der Hymne stand er stramm und sang mit. Zunächst dachte ich, das wäre ein Witz, wer singt denn allein in der Pizzeria vor dem Fernseher in Habachtstellung seine Hymne, aber als er nach einer Weile beim Spiel Aufmunterungen wie „Abschluss! Ab- schluss!“und „Tempo aufnehmen!“Richtung Bildschirm bellte, wusste ich, der meint es ernst.
Ich muss sagen, ich beneide ihn um seine optimistische Leidenschaft. Bei mir hat sie nur zehn österreichische Spielminuten lang angehalten. Nach dem schon in der Luft gelegenen, zumindest erahnbaren 0:1 war meine Euphorie verflogen. So ein Deutscher hat es gut, der weiß, aha, wir spielen gegen Polen, da muss man den Abschluss suchen und Tempo aufnehmen, und dann wird es schon irgendwie werden, die Sache mit dem Gewinnen, oder zumindest die Sache mit dem Achtelfinale und dem Viertelfinale und dem Semifinale und so. Als Österreicher denkt man zehn Minuten lang, das mit dem Achtelfinale könnte etwas werden, das mit der neuen großen Zeit des österreichischen Fußballs könnte etwas werden, dann hofft man noch eine Stunde weiter, und dann merkt man, dass die Siegesgewissheit oder zumindest die natürliche Erwartung des Erfolges etwas zutiefst Deutsches ist und in Österreich unange- bracht. Bei uns wäre ein neues Wunderteam nichts Natürliches, sondern buchstäblich ein Wunder.
Doch uns Österreichern wird Fantasie nachgesagt, vielleicht mehr als den Deutschen. Wir können uns also Siege vorstellen. Nur träumen sollten wir nicht davon.
Obwohl, natürlich werde ich heute wieder träumen. Mir einen Sieg gegen Portugal vorstellen. Und mich möglicherweise nach einer Stunde wieder wundern.
Wenn es schiefgeht, bleibt uns immerhin die Selbstironie. Eine Eigenschaft, die den Österreicher auszeichnet, im Gegensatz zu dem einen oder anderen unserer Nachbarn. Über uns lachen, das können wir ganz gut. Das konnte auch meine Oma selig, die dickere meiner Omas, die wirklich sehr dick war, sehr sehr dick, und die beim Abwaschen gerne ein kurzes Lied sang, dessen Text in etwa „Lirum larum Löffelstiel, alte Weiber fressen viel!“lautete. Ich habe sie niemals eine Hymne singen hören, aber sehr oft Liedgut, dessen Herkunft mir ein Rätsel war und eines bleiben soll.
Was den Deutschen in der Pizzeria angeht: Der war von einem hohen Sieg gegen Polen ausgegangen. Er hat sich auch gewundert. Vielleicht kann ich mich heute darüber wundern, dass sich nach neunzig Minuten die Portugiesen wundern. Ich hoffe. Ich träume.