„Ein Spiel, bei dem alle verlieren“
Aus London In der Metropole an der Themse gehen nicht nur in den Bankentürmen düstere Zukunftsvisionen um. Angst haben auch die Zimmermädchen.
Zeit und vor allem Nerven, um zu plaudern, haben die Herren im Nadelstreif heute nicht einmal in ihrer Mittagspause. In den Kaffeebars im Schatten der riesigen Glastürme in der City geben die Alarmtöne der Smartphones ein Konzert ohne Pause. Dann wird wieder hektisch getippt, neue Zahlen, Kurse etc. werden mit dem Nachbarn ausgetauscht, dazwischen kommentiert man die jüngsten Meldungen mit ebenso knappen wie groben Bemerkungen. Fragt der Reporter dann vorsichtig nach einer ersten Einschätzung der Lage, bekommt er trotz allem nur eine Dosis britisches Understatement aufgetischt: „Es ist, was es ist: eine neue Welt, ein neues Spiel. Wie es geht, wissen wir aber noch nicht.“
Ärger über Kleinstädter
Deutlicher anzusehen sind die Emotionen den jüngeren Bankern hier. Viele davon haben die Nacht des Brexit in den Büros verbracht, bei Kaffee, Pizza und dramatischen Kursstürzen. Da hält sich dann Jiao, der seit drei Jahren hier Kredite handelt, an seiner dritten Zigarette hintereinander fest und ist plötzlich entwaffnend ehrlich: „Ich sollte mit Ende zwanzig doch eigentlich das große Geld verdienen – da ist so eine Unsicherheit das Letzte, das ich brauche.“
Nicht nur zwischen den Glastürmen des Bankenviertels gehen an diesem Tag die düsteren Gedanken um. Auch im Multikulti-Viertel Camden, wo Hipster und tiefgläubige Muslime auf der selben Straße mit etwa gleichlangen Bärten herumlaufen, fühlt man sich irgendwie um eine Hoffnung ärmer. „Das sind diese Kleinstädter“, ärgert sich ein Student, „die bleiben eh nur zu Hause und fürchten sich trotzdem vor der Welt – und vor den Zuwanderern.“Ein Teil von Europa wären sie gerne, betonen er und seine Freunde, und erzählen von ihren Reisen, Studienaufenthalten zwischen Wien und Lissabon: „Es ist doch gut, wenn man Freunde und Verbündete da draußen hat.“
Der Böse vom Dienst ist bei all diesen Gesprächen rasch gefunden, Nigel Farage, der Chef der rechtspopulistischen UKIP. Abstoßend seien die Plakate mit den endlosen Schlangen von Flüchtlingen, mit denen er für den Brexit Stimmung gemacht hat. Rassistisch sei das – und das will in Camden niemand sein. Auch nicht die zwei alten Damen, die sich neben dem Spielplatz ihren Platz auf einer Parkbank zwischen all den schwarz verschleierten Muslimas erkämpft haben. Die beiden haben sehr wohl für den EU-Austritt gestimmt, und sie halten auch gar nicht hinter dem Berg damit, warum sie das getan haben. „Schauen Sie sich hier um“, zeigt Shirley auf den Spielplatz: „Die kriegen so viele Kinder, da kommen unsere Hebammen gar nicht nach – und für jedes holen sie sich Unterstützung, sogar wenn das Kind gar nicht hier lebt.“
„Eine seltsame Koalition zwischen denen, die ohnehin nichts mehr zu verlieren haben, und denen, die so viel haben, dass sie sich Verluste locker leisten können“, ortet Iain Begg, Wirtschaftsexperte von der renommierten London School of Economics, im Gespräch mit dem KURIER, hinter der Mehrheit für den Brexit. Für alle anderen aber, sei diese Entscheidung „ein Spiel, in dem es nur Verlierer gibt.“
Und die allerersten