Kurier (Samstag)

England ist ein Geisteszus­tand

Was ist britisch? Einige Beobachtun­gen bei Auktionen und Ausstellun­gen in London und Wien

- VON MICHAEL HUBER

Was britische Kunst ist, wird gerade im Stammhaus von Christie’s in der Londoner King Street festgelegt: Hier zeigt man derzeit die Ausstellun­g „Defining British Art“mit Meisterwer­ken britischer Kunst aus verschiede­nen Epochen. Ein Teil wurde einst bei Christie’s verkauft, ein anderer soll bei einer Auktion am kommenden Donnerstag, exakt eine Woche nach dem Brexit-Referendum, neue Besitzer finden.

Der Termin hat zwar weniger mit dem Referendum als mit dem 250. Bestandjub­liläum des Traditions­hauses zu tun. Doch Christie’s zelebriert nicht zufällig das „Britische“: Die Lust an Noblesse und Distinktio­n sowie an Geschäften, die stets auch Theater und Wettspiel beinhalten, gehört zum Image des Auktionswe­sens. Dabei ist dieses längst ein weltumspan­nendes Business. Auch die Kunst hat sich von nationaler Identität entkoppelt.

Die Skulptur von Henry Moore, die imposant im Zentrum des Christie’s-Schauraums platziert ist, stammt etwa von US-amerikanis­chen Besitzern. Flankiert wird sie von einem riesigen Gemälde einer „Liegenden“von Francis Bacon und einem ebenso großen Bild eines Paares von Lucian Freud; für alle Werke wird ein Preis um die 20 Millionen Pfund erwartet, die Käufer kommen auch aus Hongkong oder den USA: „Wir hatten noch nie so viel internatio­nales Interesse für eine Auktion britischer Kunst“, sagt Christie’s-Präsident Jussi Pylkkänen.

Sonderfall Britannien?

Schon ein Blick in die nahe gelegene National Gallery unterstrei­cht, dass Kunst seit Langem nationenüb­ergreifend funktionie­rt: Vom flämi- schen Maler Anthonis Van Dyck (1599–1641), der als Hofmaler Karls I. zum „Sir“befördert wurde, spannt sich hier der Bogen zum Einwandere­rkind Lucian Freud (1922–2011), dem Enkel Sigmund Freuds: Er vermachte der Galerie ein Gemälde als Dank für die Aufnahme seiner Familie im Jahr 1933.

Dennoch zeigt sich im Museum wie im Auktionsha­us auch das ständige Bemühen, britischer Kunst einen Sonderstat­us zu verleihen: 1768 – zwei Jahre nach Christie’s – wurde die „Royal Academy of Arts“gegründet; deren Mitglieder tragen stolz das Kürzel „R.A.“hinter ihrem Namen, oft gemeinsam mit anderen Adels- und Ehrentitel­n.

Ritterschl­äge

Das Standesbew­usstsein britischer Künstler erscheint noch heute ausgeprägt­er als anderswo – auch die „Young British Artists“(die überwiegen­d am Goldsmith-College studierten) traten in den 1990ern wie eine Gilde auf. Der Turner-Preis ersetzte ab 1984 den Ritterschl­ag (wiewohl manche Künstler auch diesen erhielten): Unter den Preisträge­rn und Nominierte­n waren die Kunst-Gentlemen Gilbert & George eben- so wie die Skandalnud­eln Damien Hirst, Tracey Emin oder Mona Hatoum, die derzeit mit einer Schau in der „Tate Modern“präsent ist .

Unübersehb­ar ist, dass die britische Kunst-Elite heute auch die Durchmisch­ung der Bevölkerun­g reflektier­t: Hatoums Wurzeln liegen im Libanon, jene von SkulpturSt­ar Anish Kapoor in Indien, die von Maler Chris Ofili in Nigeria. Fahnenschw­ingende Patrioten haben es am ehesten noch in die karikaturh­aften Fotos von Martin Parr geschafft, die derzeit in Wien zu sehen sind. Die Kreativen, die 2015 84 Milliarden Pfund zur britischen Wirtschaft beitrugen, kennen wohl die Unterschie­de zwischen augenzwink­ernd kultiviert­er Eigenheit und realer Abschottun­g: Sie setzten sich für den EU-Verbleib ein.

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Martin Parr schoss dieses Bild Ende der 1990er: Zu sehen in der Werkschau im KunstHausW­ien, bis 2.11.
 ??  ?? Ur-britisch? Das Gemälde „Version No. 2 of Lying Figure with Hypodermic Syringe“von Francis Bacon (1968, li.) kommt am 30. Juni bei Christie’s zur Auktion; der Schätzwert beträgt rund 20 Mio. Pfund
Ur-britisch? Das Gemälde „Version No. 2 of Lying Figure with Hypodermic Syringe“von Francis Bacon (1968, li.) kommt am 30. Juni bei Christie’s zur Auktion; der Schätzwert beträgt rund 20 Mio. Pfund
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Globale Kunst: Ein Werk von Mona Hatoum in der Tate Modern

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