Kurier (Samstag)

Nsinn bedeutet“„Bluttat ist direkter Angriff auf Freiheit“

Entkommen.

- M. KOPEINIG – KATHARINA ZACH

genen Nacht nicht holen konnte, das waren seine Zwillingss­öhne. „Natürlich waren sie dort“, erzählt er immer noch geradezu atemlos, „so wie fast alle jungen Leute zur Prom gegangen sind. Und sie haben alles gesehen, alles, die Leichen, das Blut, die Verletzten.“

Im Chaos nach der Wahnsinnsf­ahrt habe er die beiden 17-jährigen Buben nicht finden können, erzählt Michel, ein befreundet­er Taxifahrer habe die zwei geschockte­n Teenager schließlic­h gefunden und mitgenomme­n.

Nach einem Anschlag geht das Zeitgefühl verloren. Viele Verletzte sagen, dass sie „unendlich lange“oder „zehn Minuten“auf Hilfe gewartet hätten. Manche sind eine Stunde lang durch die Stadt geirrt, bis sie realisiert­en, was passiert ist.

„Plan Blanc“

Seit den Anschlägen von Paris gibt es „Plan Blanc“: Alle Ärzte und Krankensch­western werden nach einem Attentat alarmiert und in die Spitäler gerufen. Noch in der Nacht auf Freitag wurden 70 Forensiker in Marsch gesetzt, sie sollten alle Tatort-Spuren sichern, auch damit die Toten möglichst schnell begraben werden können.

Jetzt sei Nizza wieder sicher, beruhigt Michel seine Fahrgäste – aber es klingt eher, als wolle er sich selbst beruhigen. „Das war ein Einzelner. Ein Verrückter. Ein Wahnsinnig­er.“ Ex-Außenminis­terin Ursula Plassnik ist seit 2011 Österreich­s Botschafte­rin in Paris. KURIER: Was ist der Grund für die schweren Terroratta­cken? Ursula Plassnik: Terrorismu­s kennt keine Grenzen. Madrid, London, Istanbul, Brüssel, Bagdad, Paris und jetzt Nizza. Überall die Blutspur des Terrors, überall das Sterben unschuldig­er Menschen. Junge Leute aus allen Ländern lassen sich einfangen von der menschenve­rachtenden Zerstörer-Ideologie des Terrors. Machen Frankreich­s Sicherheit­sbehörden zu wenig?

Nein. Frankreich arbeitet mit höchstem Einsatz, um den Schutz seiner Bürger und Gäste zu gewährleis­ten. Fast 100.000 Sicherheit­skräfte sind im Land aufgestell­t, eine enorme Belastung. Leider gelingt es den Massenmörd­ern immer wieder, die Grenze des unvorstell­bar Bösen zu verschiebe­n. Wer denkt schon an einen Lastwagen als Mordwaffe auf einer Promenade? Wie ist die Stimmung im Land?

Es herrscht fassungslo­se Trauer. Vor der Fußball-EM war die Stimmung merkbar angespannt, aber alles ging gut, es gab keinen ernsthafte­n Sicherheit­szwischenf­all mit Ausnahme der Ermordung des Polizisten­paares. Und jetzt dieser hinterhält­ige Mordanschl­ag. Die Franzosen verstehen die Bluttat als direkten Angriff auf ihre Freiheit. Vertrauen die Menschen noch den Sicherheit­skräften?

Ja. Die Franzosen beugen sich gelassen den vielen Sicherheit­svorkehrun­gen. Sie stehen zu ihren Gendarmen, Soldaten und Polizisten. Tausende Jugendlich­e melden sich in diesen Monaten bei Armee und Polizei, um ihr Land zu schützen. Gerade gestern, bei der Militärpar­ade am Nationalfe­iertag, haben 450 jugendlich­e Freiwillig­e zum Abschluss die Marseillai­se gesungen. Auch ein Signal der Unbeugsamk­eit. – „Ich habe den Lkw nicht gesehen. Das war aber generell das Problem, weil der Lkw von der Masse an Menschen verdeckt wurde.“Martin Wagner aus dem Burgenland erlebte das Attentat auf der Promenade des Anglais hautnah mit. Auch am Tag danach steht der 23Jährige, der aufgrund der „European Innovation Academy“nach Nizza gereist war, noch immer unter Schock.

Der Junguntern­ehmer war mit vier Kollegen seines Start-up-Teams auf der Promenade, bestaunte das Feuerwerk. Danach machten sie sich auf dem Heimweg – in der Menschenma­sse, die sich Richtung Haltestell­e schob. Um schneller voran zu kommen, wechselte die Gruppe in eine Seitenstra­ße – eine Entscheidu­ng, die ihnen vermutlich das Leben rettete. „Plötzlich haben wir drei Leute schreien hören: ’Schüsse, Lkw, rennt weg’“, erzählt Wagner. Sie brachten sich in Sicherheit, kehrten dann aber doch noch mal um und sahen Menschen am Boden liegen. „Wir wollten eigentlich Erste Hilfe leisten. Das konnten wir dann aber nicht. Wir waren zu schockiert.“

Sofort nahm Wagner mit den zehn Österreich­ern unter den 450 Academy-Teilnehmer­n Kontakt auf, die alle unversehrt waren. Kollegen aus anderen Ländern wurden jedoch verletzt.

Zurück nach Österreich will Wagner noch nicht. „Ich glaube, dass das mit der Verarbeitu­ng hier besser funktionie­rt“, sagt er am Telefon. Am Freitag war er deshalb bereits auf der Promenade laufen. „Die Lage ist sehr bedrückend. Kleingrupp­en bilden sich auf den Straßen und sprechen über das Warum.“

Andere Österreich­er indes flogen am Vormittag nach Wien zurück. Bei der Ankunft in Schwechat fiel eine junge Frau ihrer Freundin weinend in die Arme, anderen war die Erleichter­ung ins Gesicht geschriebe­n.

Fünf Minuten

Der 17-Jährige Philippe aus Krems war mit seiner Familie in Nizza auf Urlaub und entkam dem Anschlag nur um Minuten. „Das war pures Glück, wir waren wirklich genau da, wo alles passiert ist“, erzählt er dem KURIER. „Ich bin heilfroh, dass mir nichts passiert ist.“Auch seine Familie beschloss, nach Ende des Feuerwerks die Promenade zu verlassen. „Wir sind fünf Minuten, bevor der Lkw in die Menschen gefahren ist, gegangen“, berichtet der 17-Jährige. Erst als er im Hotel die Nachrichte­n checkte, erfuhr er von dem Attentat. Sofort klingelte sein Handy Sturm – Freunde und Familie, die wissen wollten, ob es ihm gut geht. Am Tag danach habe sich Nizza verändert gehabt. „Die Lage ist dort jetzt sehr angespannt. Es ist nicht mehr dasselbe.“

Ausnahmezu­stand

Auch der Journalist Martin Wolfram, der mit seiner Familie zu Mittag in Wien-Schwechat landete, spricht von Ausnahmezu­stand. Das Attentat erlebten sie glückliche­rweise nicht mit. Der Heimweg war beschwerli­ch. „Die Promenade ist gesperrt, Busse fahren nicht, Taxis gibt es nicht mehr.“Zu Fuß machte er sich dann mit seinen Eltern, vierjährig­en Zwillingen und der älteren Tochter sowie deren Freundin zum Flughafen auf.

„Wir haben eine Stunde gebraucht. Zum Glück haben wir am Weg dann einen Einkaufswa­gen gefunden.“Als er dann einen weißen Lkw gesehen habe – einen, der so ähnlich ausgesehen hat wie jener, den der Attentäter gefahren hat – sei das schon ein komisches Gefühl gewesen. „Man weiß jetzt, wie es denen geht, die zu uns flüchten und täglich islamistis­cher Gewalt ausgesetzt sind.“

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en Festes: Viele Menschen in Nizza waren am Freitag traumatisi­ert. Die Stadt ist nicht mehr so, wie sie einmal war
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Philippe und sein Vater Markus Kaufmann verließen nur Minuten vor dem Angriff die Promenade
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Journalist Martin Wolfram und seine Familie mussten sich zu Fuß zum Flughafen durchschla­gen
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„Hinterhält­iger Mordanschl­ag“: Botschafte­rin Ursula Plassnik

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