Nsinn bedeutet“„Bluttat ist direkter Angriff auf Freiheit“
Entkommen.
genen Nacht nicht holen konnte, das waren seine Zwillingssöhne. „Natürlich waren sie dort“, erzählt er immer noch geradezu atemlos, „so wie fast alle jungen Leute zur Prom gegangen sind. Und sie haben alles gesehen, alles, die Leichen, das Blut, die Verletzten.“
Im Chaos nach der Wahnsinnsfahrt habe er die beiden 17-jährigen Buben nicht finden können, erzählt Michel, ein befreundeter Taxifahrer habe die zwei geschockten Teenager schließlich gefunden und mitgenommen.
Nach einem Anschlag geht das Zeitgefühl verloren. Viele Verletzte sagen, dass sie „unendlich lange“oder „zehn Minuten“auf Hilfe gewartet hätten. Manche sind eine Stunde lang durch die Stadt geirrt, bis sie realisierten, was passiert ist.
„Plan Blanc“
Seit den Anschlägen von Paris gibt es „Plan Blanc“: Alle Ärzte und Krankenschwestern werden nach einem Attentat alarmiert und in die Spitäler gerufen. Noch in der Nacht auf Freitag wurden 70 Forensiker in Marsch gesetzt, sie sollten alle Tatort-Spuren sichern, auch damit die Toten möglichst schnell begraben werden können.
Jetzt sei Nizza wieder sicher, beruhigt Michel seine Fahrgäste – aber es klingt eher, als wolle er sich selbst beruhigen. „Das war ein Einzelner. Ein Verrückter. Ein Wahnsinniger.“ Ex-Außenministerin Ursula Plassnik ist seit 2011 Österreichs Botschafterin in Paris. KURIER: Was ist der Grund für die schweren Terrorattacken? Ursula Plassnik: Terrorismus kennt keine Grenzen. Madrid, London, Istanbul, Brüssel, Bagdad, Paris und jetzt Nizza. Überall die Blutspur des Terrors, überall das Sterben unschuldiger Menschen. Junge Leute aus allen Ländern lassen sich einfangen von der menschenverachtenden Zerstörer-Ideologie des Terrors. Machen Frankreichs Sicherheitsbehörden zu wenig?
Nein. Frankreich arbeitet mit höchstem Einsatz, um den Schutz seiner Bürger und Gäste zu gewährleisten. Fast 100.000 Sicherheitskräfte sind im Land aufgestellt, eine enorme Belastung. Leider gelingt es den Massenmördern immer wieder, die Grenze des unvorstellbar Bösen zu verschieben. Wer denkt schon an einen Lastwagen als Mordwaffe auf einer Promenade? Wie ist die Stimmung im Land?
Es herrscht fassungslose Trauer. Vor der Fußball-EM war die Stimmung merkbar angespannt, aber alles ging gut, es gab keinen ernsthaften Sicherheitszwischenfall mit Ausnahme der Ermordung des Polizistenpaares. Und jetzt dieser hinterhältige Mordanschlag. Die Franzosen verstehen die Bluttat als direkten Angriff auf ihre Freiheit. Vertrauen die Menschen noch den Sicherheitskräften?
Ja. Die Franzosen beugen sich gelassen den vielen Sicherheitsvorkehrungen. Sie stehen zu ihren Gendarmen, Soldaten und Polizisten. Tausende Jugendliche melden sich in diesen Monaten bei Armee und Polizei, um ihr Land zu schützen. Gerade gestern, bei der Militärparade am Nationalfeiertag, haben 450 jugendliche Freiwillige zum Abschluss die Marseillaise gesungen. Auch ein Signal der Unbeugsamkeit. – „Ich habe den Lkw nicht gesehen. Das war aber generell das Problem, weil der Lkw von der Masse an Menschen verdeckt wurde.“Martin Wagner aus dem Burgenland erlebte das Attentat auf der Promenade des Anglais hautnah mit. Auch am Tag danach steht der 23Jährige, der aufgrund der „European Innovation Academy“nach Nizza gereist war, noch immer unter Schock.
Der Jungunternehmer war mit vier Kollegen seines Start-up-Teams auf der Promenade, bestaunte das Feuerwerk. Danach machten sie sich auf dem Heimweg – in der Menschenmasse, die sich Richtung Haltestelle schob. Um schneller voran zu kommen, wechselte die Gruppe in eine Seitenstraße – eine Entscheidung, die ihnen vermutlich das Leben rettete. „Plötzlich haben wir drei Leute schreien hören: ’Schüsse, Lkw, rennt weg’“, erzählt Wagner. Sie brachten sich in Sicherheit, kehrten dann aber doch noch mal um und sahen Menschen am Boden liegen. „Wir wollten eigentlich Erste Hilfe leisten. Das konnten wir dann aber nicht. Wir waren zu schockiert.“
Sofort nahm Wagner mit den zehn Österreichern unter den 450 Academy-Teilnehmern Kontakt auf, die alle unversehrt waren. Kollegen aus anderen Ländern wurden jedoch verletzt.
Zurück nach Österreich will Wagner noch nicht. „Ich glaube, dass das mit der Verarbeitung hier besser funktioniert“, sagt er am Telefon. Am Freitag war er deshalb bereits auf der Promenade laufen. „Die Lage ist sehr bedrückend. Kleingruppen bilden sich auf den Straßen und sprechen über das Warum.“
Andere Österreicher indes flogen am Vormittag nach Wien zurück. Bei der Ankunft in Schwechat fiel eine junge Frau ihrer Freundin weinend in die Arme, anderen war die Erleichterung ins Gesicht geschrieben.
Fünf Minuten
Der 17-Jährige Philippe aus Krems war mit seiner Familie in Nizza auf Urlaub und entkam dem Anschlag nur um Minuten. „Das war pures Glück, wir waren wirklich genau da, wo alles passiert ist“, erzählt er dem KURIER. „Ich bin heilfroh, dass mir nichts passiert ist.“Auch seine Familie beschloss, nach Ende des Feuerwerks die Promenade zu verlassen. „Wir sind fünf Minuten, bevor der Lkw in die Menschen gefahren ist, gegangen“, berichtet der 17-Jährige. Erst als er im Hotel die Nachrichten checkte, erfuhr er von dem Attentat. Sofort klingelte sein Handy Sturm – Freunde und Familie, die wissen wollten, ob es ihm gut geht. Am Tag danach habe sich Nizza verändert gehabt. „Die Lage ist dort jetzt sehr angespannt. Es ist nicht mehr dasselbe.“
Ausnahmezustand
Auch der Journalist Martin Wolfram, der mit seiner Familie zu Mittag in Wien-Schwechat landete, spricht von Ausnahmezustand. Das Attentat erlebten sie glücklicherweise nicht mit. Der Heimweg war beschwerlich. „Die Promenade ist gesperrt, Busse fahren nicht, Taxis gibt es nicht mehr.“Zu Fuß machte er sich dann mit seinen Eltern, vierjährigen Zwillingen und der älteren Tochter sowie deren Freundin zum Flughafen auf.
„Wir haben eine Stunde gebraucht. Zum Glück haben wir am Weg dann einen Einkaufswagen gefunden.“Als er dann einen weißen Lkw gesehen habe – einen, der so ähnlich ausgesehen hat wie jener, den der Attentäter gefahren hat – sei das schon ein komisches Gefühl gewesen. „Man weiß jetzt, wie es denen geht, die zu uns flüchten und täglich islamistischer Gewalt ausgesetzt sind.“