UNTER SCHOCK
Frankreichs Innenminister warnt vor der Illusion, eines raschen Siegs gegen den Terror und sagt, „Null-Risiko“gebe es nicht. Der Ausnahmezustand wurde verlängert.
Terror in Nizza. Einen Tag nachdem ein Lkw in die feiernde Menschenmenge gerast war und zumindest 84 Menschen getötet hat, herrschte in der Ferienmetropole tiefe Trauer. Augenzeugen berichten von den schrecklichen Szenen.
„Wir wollten nach dem Feuerwerk noch ein Eis essen gehen“, erzählt Karim, ein junger Mann: „Da habe ich den Laster auf uns zurollen gesehen. Zuerst dachte ich, der kommt die Metall-Barrieren einsammeln. Dann wurde er immer schneller, die Leute haben geschrien, sind au seinandergestoben und gestürzt, links und rechts sind Menschen auf dem Boden gelegen. Wir waren nicht mehr in Frankreich, unmöglich. Wir waren im Irak oder Syrien, dachte ich.“Ein anderer Überlebender, Taoufik, sagt: „Ich wurde in die Luft geschleudert, habe mich trotzdem aufgerappelt. Aber ich konnte den Leuten rund herum nicht helfen, ich sah ein Baby aus dem Mund bluten und sterben.“Sein Freund, Brahim, ergänzt: „Der Terror hat uns eingeholt. Ich werde diese Bilder nie mehr los.“
Spiegel der Gesellschaft
Karim, Taoufik, Brahim – am Morgen nach der Amokfahrt von Nizza, bei der, nach vorläufigem Stand, 84 Personen zu Tode gewälzt und Dutzende schwer verletzt wurden (70 schwebten am Freitag noch in Lebensgefahr), sah man auf Frankreichs Nachrichtensendern öfter als die Auftritte der Spitzenpolitiker die Berichte geschockter Au- genzeugen. Und diese trugen vielfach arabische Namen, so als wolle man den Eindruck ausgleichen, den die Information hinterließ, dass es sich bei dem Lkw-Lenker um einen 31-jährigen Tunesier handelte. So als wollte man die Gefahr jener „ethnischen Zusammenstöße“bannen, die der Chef des Inlandsgeheimdiensts, Patrick Calvar, erst vor Tagen für den Fall weiteren Terrors durch Islamisten prophezeit hatte.
Und doch war keine Absicht im Spiel. Es war das Spiegelbild der Realität: Unter den Tausenden, die sich auf der Promenade von Nizza versammelt hatten, waren zahllose Franzosen maghrebinischer Abstammung.
Es war wohl auch dieses festlich-patriotische Zusammenrücken des Frankreichs aller Konfessionen und Ethnien, das schon während der Fußball-EM so deutlich zutage getreten war – und das der Attentäter im Visier hatte. Über Mohammed Lahouaiej Bouhlel war zunächst bekannt geworden, dass er in Nizza lebte, dass er es mit Glaubensregeln nicht genau nahm, dass er den Lkw am 12. Juni mietete, dass er polizeibekannt war wegen Diebstahls unter Gewaltandrohung, einem Raufhandel und wegen Tätlichkeiten gegen seine frühere Frau. Aber als Islamist wurde der dreifache Vater nie eingestuft und wurde folglich auch nicht als eine der rund 13.000 Personen geführt, die als „gefährlich für die innere Sicherheit“eingestuft werden. Premier Manuel Valls qualifizierte ihn dennoch als jemanden, der „auf die eine oder andere Weise mit dem radikalen Islamismus verbunden war“.
Die Terrorgruppe Islamischer Staat aber erwähnte das Blutbad in Nizza in ihrem täglichen „Nachrichtenüberblick“nicht.
Deswegen mutet auch die innenpolitische Polemik seltsam hilflos an, die nach dem Massaker in Frankreich entbrannte. So erklärte Ex-Premier Alain Juppé, der als aussichtsreichster bürgerlicher Kandidat für die Präsidentenwahlen 2017 gilt: „Wenn alle Mittel eingesetzt worden wären, hätte dieser Anschlag nicht stattgefunden“. Aber über diese Mittel gibt es kaum klare Angaben seitens der Opposition. Die Überwachung der 13.000 vorgemerkten Islamisten sei mangelhaft, heißt es, aber das liegt wohl auch daran, dass eine Rund-um-die-Uhr-Beschattung einer derartigen Menge die Kapazitäten der Sicherheitskräfte übersteigt.
Komplize?
Der örtliche Landeshauptmann, der konservative Christian Estrosi, erklärte, er sei „wütend“, dass der Täter auf die „Promenade des Anglais“vordringen konnte, obwohl diese am 14. Juli als abgeriegelte Zone galt.
Versagte die Polizei? Der Lastzug konnte zwei Kilometer durch die Sperrzone rasen. Allerdings brachten ihn dann nach verhältnismäßig kurzer Zeit Polizisten zum Stillstand und töteten den Fahrer nach einem kurzen Feuergefecht – der Attentäter hatte einen Revolver bei sich sowie Gewehr- und Grana-
ten-Attrappen. Gefunden wurde zudem ein zweiter Ausweis. Geprüft wird jetzt, ob es sich um einen möglichen Komplizen handelt.
Vor allem wirft die Opposition der sozialistischen Staatsspitze Ungereimtheiten in ihrer Politik vor. Das stützt sich darauf, dass Präsident François Hollande erst am Vortag des Anschlags erklärt hatte, der Ausnahmezustand werde Ende Juli beendet. Dieser war im November verhängt worden und hatte den Behörden umfangreiche Befugnisse verschafft.
Weitere Maßnahmen
Nun erklärte Hollande, der Ausnahmezustand werde bis Oktober verlängert. Zudem soll die „operationelle Reserve“zum Einsatz kommen: eine Truppe aus pensionierten Gendarmen und freiwillig dienenden Zivilisten. Damit sollen die vielfach erschöpften Polizisten unterstützt werden, die seit Monaten Überstunden leisten und auf Urlaube verzichten müssen. Und schließlich, so Hollande, werde Frankreich seine Luftschläge gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“im Irak und Syrien intensivieren – aber das hatte Präsident Hollande bereits am 14. Juli versprochen.
Innenminister Bernard Cazeneuve warnte FreitagAbend aber vor jeglichen Illusionen: „Dieser Krieg gegen den Terror wird Generationen dauern. Wären wir nicht im Dauereinsatz, würde es laufend terroristische Morde geben. Allein seit Jahresbeginn haben wir 16 Anschläge vereitelt. Aber keine Regierung wird ein Null-Risiko garantieren können.“