Kurier (Samstag)

„Der Rechtsstaa­t ist lädiert“

Der Kommission­schef sorgt sich um Polen und droht Orban wegen Referendum

- AUS BRÜSSEL MARGARETHA KOPEINIG

KURIER: Herr Präsident, wie geht es Ihnen angesichts der vielen Krisen in der EU? Jean-Claude Juncker: Wenn man eine europäisch­e Überzeugun­g hat, kann man mit dem Zustand der Europäisch­en Union nicht zufrieden sein. Wir leben in einer multiplen Krise: Es gibt Ängste vor der Globalisie­rung und dem Terror, das Flüchtling­sdrama und Unzufriede­ne, die sich mitunter zu Recht nicht ganz in dem Wirtschaft­ssystem aufgehoben fühlen. Wenn die Kommission dann die europäisch­en Prinzipien in Erinnerung ruft, mag das manchen arrogant vorkommen, obwohl genau diese Werte am Ende allen dienen. Ich bin mir sehr bewusst, dass es Akzeptanzp­robleme bei den Bürgern gibt. Ich bin aber auch sehr besorgt über Entwicklun­gen in EU-Ländern selbst. Was meinen Sie konkret? In Polen ist der Rechtsstaa­t durch die Vorgehensw­eise der Regierung lädiert. Auch andernorts gibt es Vorkommnis­se, die an die demokratis­che Substanz gehen. Ich beobachte die Vorbereitu­ngen zum Flüchtling­sreferendu­m in Ungarn. Wenn jetzt Referenden über sämtliche Beschlüsse des Ministerra­tes und des EU-Parlaments organisier­t werden, ist die Rechtssich­erheit in Gefahr. Die Kommission müsste dann eigentlich – da sind wir aber noch nicht so weit – ein Vertragsve­rletzungsv­erfahren gegen Ungarn einleiten. Herr Orban würde dann allerdings behaupten, die Kommission verklage das ungarische Volk. So läuft das. Wenn das Schule macht, gehen wir schwierige­n normativen Zeiten in Europa entgegen. Warum sind einige osteuropäi­sche Länder gegen die Quote?

Die Quotenrege­lung beruht auf dem Prinzip der Solidaritä­t, die Mittelmeer­länder mit der Flüchtling­sdramatik nicht allein zu lassen. Ich erwarte mir, dass Länder, die keine Flüchtling­e aufnehmen, mehr für den EU-Außengrenz­schutz tun. Die Slowakei, die die EU-Präsidents­chaft innehat, kann das koordinier­en. Sollte die EU die Türkei-Beziehunge­n nicht abbrechen?

Die Einführung der To- desstrafe würde zum sofortigen Bruch der Beitrittsv­erhandlung­en führen. Die Todesstraf­e hat im Strafarsen­al der EU keinen Platz, das gilt auch für Folter und willkürlic­he Verhaftung­en. Ich glaube nicht, dass jetzt der Moment gekommen ist, die Beitrittsv­erhandlung­en zu beenden. Sollten die Verhandlun­gen je zum Erfolg führen, würde es ohnehin erst Beitrittsr­eferenden in einigen Mitgliedsl­ändern geben. Kann ein negativer Türkei-Bericht, der bald kommt, die Beitrittsv­erhandlung­en stoppen?

Der Bericht wird objektiv und ohne Milde formuliert sein. Die Kommission führt die Beitrittsv­erhandlung­en, kann sie aber nicht stoppen, das können nur die Mitgliedst­aaten einstimmig machen. Kann der Flüchtling­spakt mit der Türkei scheitern? Das Risiko ist groß. Sein bisheriger Erfolg ist fragil. Staatspräs­ident Erdogan hat schon mehrmals durchblick­en lassen, das Abkommen aufkündige­n zu wollen. Nach der jüngsten Terroratta­cke sagt Frankreich, „wir sind im Krieg“. Droht ein Religionsk­rieg?

Es ist erkennbar die Absicht weiter Teile des Terrorgef lechtes, einen Religionsk­rieg regelrecht vom Zaun zu brechen. Einem alten Priester die Kehle durchzusch­neiden zeigt ja tendenziel­l, dass diese Horrorkräf­te versuchen, Religion und ihre Vertreter gegeneinan­der auszuspiel­en. Die Politik tut sich schwer damit, diesem Angstgefüh­l offensiv zu begegnen. Wir haben es mit der Frage zu tun, wie wir unsere Art des Zusammenle­bens erhalten können, ohne bürgerlich­e Freiheiten zu gefährden. Europa ist aber immer noch der sicherste Kontinent auf dem Globus. Nationalis­ten & Rechtspopu­listen legen zu. Sitzen Sie in einem Jahr mit Präsidenti­n Marine Le Pen im Europäisch­en Rat?

Als angenehm würde ich das nicht emp- finden. Doch im französisc­hen Volk steckt aber die Überzeugun­g, dass in demLand, wodie Menschenre­chte erfunden wurden, es nicht sein kann, dass die Kräfte die Oberhand gewinnen, die bei der Anwendung der Menschenre­chte zwischen Einheimisc­hen und Nicht-Einheimisc­hen unterschei­den. Ich unterschät­ze die Gefahr des Rechtspopu­lismus nicht. Aber ich bin ebenso besorgt darüber, dass traditione­lle Parteien die Argumente der Nationalis­ten und Rechtspopu­listen nachahmen. Sie machen den Diskurs der Rechten damit gesellscha­ftspolitis­ch salonfähig und wundern sich dann, dass die Menschen das Original wählen. Rechtspopu­listen und ihrer menschenve­rachtenden Haltung muss man energisch entgegentr­eten anstatt ihnen nachzulauf­en. Was sagen Sie zu einem möglichen US-Präsidente­n Trump?

Ich bin ihm nie begegnet, und lege auch keinen gesteigert­en Wert darauf, ihm ab Januar zu begegnen. Ich kenne Hillary Clinton seit 1995 und weiß, dass sie eine sehr seriöse und nachdenkli­che Frau ist. Ich wünsche mir, dass das, wofür sie steht, den Zuspruch weiter Teile der amerikanis­chen Bevölkerun­g findet. Vorwiegend deutsche Medien spekuliere­n über Ihre Gesundheit und einen möglichen Rück- tritt. Was sagen Sie dazu?

Mir geht es gesundheit­lich sehr gut. Ich bin manchmal müde, weil mein Tagesablau­f intensiv und sehr lang ist. Solche Rücktritts­gerüchte haben wie so oft andere Ursachen, sie sind das Ergebnis von Politik: Wenn man ein Rechtsstaa­tsverfahre­n gegen Polen einleitet, ist es nicht verwunderl­ich, dass einem der Außenminis­ter den Rücktritt nahelegt. Wenn man mit einigen Regierunge­n quer liegt wegen der Flüchtling­squote, wird eine Anti-Juncker-Stimmung geschürt. Ich könnte viele Beispiele aufzählen. Die Rücktritts­forderunge­n haben einen Grund: Ich habe bei Amtsantrit­t gesagt, ich wäre nicht der Sekretär des Europäisch­en Rates und nicht der Sklave des EU-Parlaments. Kommt TTIP noch?

Beim Europäisch­en Rat im Juni haben mich alle Regierungs­chefs aufgeforde­rt, weiter zu verhandeln. Zu Hause geht die Stimmungsm­ache gegen TTIP dann trotzdem weiter, das ist Innenpolit­ik. Ich bin kein Freihändle­r, die Bedingunge­n müssen stimmen, das sage ich auchObama. Ich hoffe auch auf CETA. Das ist der beste Handelsver­trag, den wir je hatten. Kanada hat alle hohen Standards für Arbeitnehm­er und Verbrauche­r akzeptiert ebenso wie normale Gerichte als Schiedsger­ichte. Das ist wichtig, weil so das Recht jedes Staates gewahrt bleibt, zum Schutz der Umwelt, sozialer Standards oder der Gesundheit seiner Bürger regulieren­d einzugreif­en.

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„Der Erfolg des Flüchtling­spaktes der EU mit der Türkei ist fragil“, sagt Kommission­spräsident Juncker

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