„Der Rechtsstaat ist lädiert“
Der Kommissionschef sorgt sich um Polen und droht Orban wegen Referendum
KURIER: Herr Präsident, wie geht es Ihnen angesichts der vielen Krisen in der EU? Jean-Claude Juncker: Wenn man eine europäische Überzeugung hat, kann man mit dem Zustand der Europäischen Union nicht zufrieden sein. Wir leben in einer multiplen Krise: Es gibt Ängste vor der Globalisierung und dem Terror, das Flüchtlingsdrama und Unzufriedene, die sich mitunter zu Recht nicht ganz in dem Wirtschaftssystem aufgehoben fühlen. Wenn die Kommission dann die europäischen Prinzipien in Erinnerung ruft, mag das manchen arrogant vorkommen, obwohl genau diese Werte am Ende allen dienen. Ich bin mir sehr bewusst, dass es Akzeptanzprobleme bei den Bürgern gibt. Ich bin aber auch sehr besorgt über Entwicklungen in EU-Ländern selbst. Was meinen Sie konkret? In Polen ist der Rechtsstaat durch die Vorgehensweise der Regierung lädiert. Auch andernorts gibt es Vorkommnisse, die an die demokratische Substanz gehen. Ich beobachte die Vorbereitungen zum Flüchtlingsreferendum in Ungarn. Wenn jetzt Referenden über sämtliche Beschlüsse des Ministerrates und des EU-Parlaments organisiert werden, ist die Rechtssicherheit in Gefahr. Die Kommission müsste dann eigentlich – da sind wir aber noch nicht so weit – ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn einleiten. Herr Orban würde dann allerdings behaupten, die Kommission verklage das ungarische Volk. So läuft das. Wenn das Schule macht, gehen wir schwierigen normativen Zeiten in Europa entgegen. Warum sind einige osteuropäische Länder gegen die Quote?
Die Quotenregelung beruht auf dem Prinzip der Solidarität, die Mittelmeerländer mit der Flüchtlingsdramatik nicht allein zu lassen. Ich erwarte mir, dass Länder, die keine Flüchtlinge aufnehmen, mehr für den EU-Außengrenzschutz tun. Die Slowakei, die die EU-Präsidentschaft innehat, kann das koordinieren. Sollte die EU die Türkei-Beziehungen nicht abbrechen?
Die Einführung der To- desstrafe würde zum sofortigen Bruch der Beitrittsverhandlungen führen. Die Todesstrafe hat im Strafarsenal der EU keinen Platz, das gilt auch für Folter und willkürliche Verhaftungen. Ich glaube nicht, dass jetzt der Moment gekommen ist, die Beitrittsverhandlungen zu beenden. Sollten die Verhandlungen je zum Erfolg führen, würde es ohnehin erst Beitrittsreferenden in einigen Mitgliedsländern geben. Kann ein negativer Türkei-Bericht, der bald kommt, die Beitrittsverhandlungen stoppen?
Der Bericht wird objektiv und ohne Milde formuliert sein. Die Kommission führt die Beitrittsverhandlungen, kann sie aber nicht stoppen, das können nur die Mitgliedstaaten einstimmig machen. Kann der Flüchtlingspakt mit der Türkei scheitern? Das Risiko ist groß. Sein bisheriger Erfolg ist fragil. Staatspräsident Erdogan hat schon mehrmals durchblicken lassen, das Abkommen aufkündigen zu wollen. Nach der jüngsten Terrorattacke sagt Frankreich, „wir sind im Krieg“. Droht ein Religionskrieg?
Es ist erkennbar die Absicht weiter Teile des Terrorgef lechtes, einen Religionskrieg regelrecht vom Zaun zu brechen. Einem alten Priester die Kehle durchzuschneiden zeigt ja tendenziell, dass diese Horrorkräfte versuchen, Religion und ihre Vertreter gegeneinander auszuspielen. Die Politik tut sich schwer damit, diesem Angstgefühl offensiv zu begegnen. Wir haben es mit der Frage zu tun, wie wir unsere Art des Zusammenlebens erhalten können, ohne bürgerliche Freiheiten zu gefährden. Europa ist aber immer noch der sicherste Kontinent auf dem Globus. Nationalisten & Rechtspopulisten legen zu. Sitzen Sie in einem Jahr mit Präsidentin Marine Le Pen im Europäischen Rat?
Als angenehm würde ich das nicht emp- finden. Doch im französischen Volk steckt aber die Überzeugung, dass in demLand, wodie Menschenrechte erfunden wurden, es nicht sein kann, dass die Kräfte die Oberhand gewinnen, die bei der Anwendung der Menschenrechte zwischen Einheimischen und Nicht-Einheimischen unterscheiden. Ich unterschätze die Gefahr des Rechtspopulismus nicht. Aber ich bin ebenso besorgt darüber, dass traditionelle Parteien die Argumente der Nationalisten und Rechtspopulisten nachahmen. Sie machen den Diskurs der Rechten damit gesellschaftspolitisch salonfähig und wundern sich dann, dass die Menschen das Original wählen. Rechtspopulisten und ihrer menschenverachtenden Haltung muss man energisch entgegentreten anstatt ihnen nachzulaufen. Was sagen Sie zu einem möglichen US-Präsidenten Trump?
Ich bin ihm nie begegnet, und lege auch keinen gesteigerten Wert darauf, ihm ab Januar zu begegnen. Ich kenne Hillary Clinton seit 1995 und weiß, dass sie eine sehr seriöse und nachdenkliche Frau ist. Ich wünsche mir, dass das, wofür sie steht, den Zuspruch weiter Teile der amerikanischen Bevölkerung findet. Vorwiegend deutsche Medien spekulieren über Ihre Gesundheit und einen möglichen Rück- tritt. Was sagen Sie dazu?
Mir geht es gesundheitlich sehr gut. Ich bin manchmal müde, weil mein Tagesablauf intensiv und sehr lang ist. Solche Rücktrittsgerüchte haben wie so oft andere Ursachen, sie sind das Ergebnis von Politik: Wenn man ein Rechtsstaatsverfahren gegen Polen einleitet, ist es nicht verwunderlich, dass einem der Außenminister den Rücktritt nahelegt. Wenn man mit einigen Regierungen quer liegt wegen der Flüchtlingsquote, wird eine Anti-Juncker-Stimmung geschürt. Ich könnte viele Beispiele aufzählen. Die Rücktrittsforderungen haben einen Grund: Ich habe bei Amtsantritt gesagt, ich wäre nicht der Sekretär des Europäischen Rates und nicht der Sklave des EU-Parlaments. Kommt TTIP noch?
Beim Europäischen Rat im Juni haben mich alle Regierungschefs aufgefordert, weiter zu verhandeln. Zu Hause geht die Stimmungsmache gegen TTIP dann trotzdem weiter, das ist Innenpolitik. Ich bin kein Freihändler, die Bedingungen müssen stimmen, das sage ich auchObama. Ich hoffe auch auf CETA. Das ist der beste Handelsvertrag, den wir je hatten. Kanada hat alle hohen Standards für Arbeitnehmer und Verbraucher akzeptiert ebenso wie normale Gerichte als Schiedsgerichte. Das ist wichtig, weil so das Recht jedes Staates gewahrt bleibt, zum Schutz der Umwelt, sozialer Standards oder der Gesundheit seiner Bürger regulierend einzugreifen.