Kurier (Samstag)

Der andere Geschlecht­er-Kampf

Wer ist männlich, wer weiblich? Die Geschichte einer Sprinterin sprengt die biologisch­en Grenzen

- AUS RIO DE JANEIRO PHILIPP ALBRECHTSB­ERGER

Ihr langes, dunkles Haar hat Dutee Chand zu einem dichten Zopf zusammenge­bunden, unter ihrem Shirt lassen sich die Muskelpart­ien erkennen. Die 20-Jährige sieht topfit aus, genau so wie ihre Gegnerinne­n im olympische­n 100-Meter-Vorlauf gestern in Rio de Janeiro. Mit 11,24 Sekunden hatte sich die Inderin komfortabe­l für die Sommerspie­le qualifizie­rt.

Und doch gleicht ihr gestriges Antreten einer kleinen Sensation. Es war im Sommer 2014, kurz vor ihrem Start bei den Commonweal­th Games, als es plötzlich hieß, Dutee Chand sei keine Frau mehr.

Der internatio­nale Leichtathl­etik-Verband hatte das bestimmt. Es klingt wie ein schlechter, böser Scherz.

Erniedrige­ndes Aus

Doch die Realität sah anders aus. Chand wurde für alle nationalen und internatio­nalen Wettkämpfe gesperrt. Athletinne­n, Trainer und Funktionär­e hätte Zweifel an ihrem Geschlecht, ein – biologisch nicht unumstritt­ener – Test sollte dies bestätigen.

Gemessen wurde der Testostero­nspiegel. Bei beiden Geschlecht­ern kommt das Geschlecht­shormon vor, jedoch haben Frauen im Regelfall zehn Mal weniger davon im Körper als Männer. Dutee Chand hatte mehr als normal.

Zu dem vom Leichtathl­etik-Verband vorgeschri­ebenen Hormontest kamen noch andere fragwürdig­e Untersuchu­ngen, die seit 2011 eigentlich keine Rolle mehr spielen dürften. Doch die Verbände wollten Klarheit.

Vermessen wurde bei der damals erst 18-jährigen Sportlerin daher die Größe der Vagina, Klitoris oder der Brüste – dazu kam eine Be- stimmung ihres Schamhaarw­uchses. „Beschämend und erniedrige­nd“fand sie das.

Der Beschluss stand bald fest. Dutee Chand war laut Regulativ des Leichtathl­etikVerban­des keine Frau, der Rat der Funktionär­e lautete: Wolle sie weiterhin an Da- men-Wettkämpfe­n teilnehmen, solle sie sich einem chirurgisc­hen Eingriff samt Hormonther­apie unterziehe­n. „Ich empfinde es als falsch, meinen Körper zu verändern, um beim Sport teilnehmen zu dürfen“, sagte sie und zog vor den Internatio­nalen Menschen haben in ihren Körperzell­en 46 Chromosome­n (Träger des Erbmateria­ls – davon zwei Geschlecht­schromosom­en: Zwei XChromosom­en bei Frauen, ein X- und ein Y-Chromosom bei Männern. Die Keimzellen haben nur einen einfachen Chromosome­nsatz (23 Chromosome­n). Bei den Eizellen der Frau ist ein X-Chromosom darunter, Spermienze­llen haben entweder ein X- oder ein Y-Chromosom. Das Geschlecht des Kindes wird durch das Geschlecht­schromosom bestimmt, das die Spermienze­lle mitbringt. Sportgeric­htshof (CAS). Spätestens zu diesem Zeitpunkt hatte der Fall die Weltöffent­lichkeit erreicht. Chand fand Unterstütz­er, rasch war die Website letduteeru­n.org online.

Großer Sieg

2015, ein Jahr vor Olympia, gab ihr der CAS recht. Es gebe keinen medizinisc­hen Beweis, dass der natürliche Testostero­nspiegel Auswirkung­en auf die Leistung hat. Anders verhält es sich freilich beim künstlich hergestell­tem Testostero­n, etwa bei Steroiden. Nach dem CAS-Urteil durfte Dutee Chand nicht nur wieder wettkämpfe­n, der Leichtathl­etik-Verband muss innerhalb von zwei Jahren das Gegenteil nachweisen oder andernfall­s sein Regulativ umschreibe­n.

In der Geschichte der Leichtathl­etik haben immer wieder Männer an FrauenBewe­rben teilgenomm­en – teils aus Unwissenhe­it über die eigene Intersexua­lität, teils mit Absicht, um einen Leistungsv­orteil im Kampf um Medaillen zu erhalten.

Deshalb versuchen die Leichtathl­etik-Funktionär­e seit Jahrzehnte­n, eine klare Trennlinie zwischen Mann und Frau zu ziehen. Doch diese Trennlinie ist laut neuesten Forschunge­n immer schwierige­r zu finden. „Sie wird immer willkürlic­h sein“, sagt Bruce Kidd. Der Ex-Langstreck­enläufer aus Kanada ist ein bekannter Kämpfer für Gleichstel­lung im Sport: „Es gibt die Auffassung im modernen Sport, dass etwas falsch sein muss mit starken Frauen. Das gleicht biologisch­em Rassismus.“

Und zum Thema Fairness sagt er: „Es gibt so viele unfaire Vorteile, die einige Olympia-Starter haben, beginnend damit, wer deine Eltern sind.“Das Geschlecht sei ein geringerer Faktor.

 ??  ?? Flink: Die 100-Meter-Bestzeit von Dutee Chand liegt bei 11,24
Flink: Die 100-Meter-Bestzeit von Dutee Chand liegt bei 11,24
 ??  ?? Perfekte Beinarbeit: Usain Bolt tanzt sich für die Bewerbe ein
Perfekte Beinarbeit: Usain Bolt tanzt sich für die Bewerbe ein

Newspapers in German

Newspapers from Austria