Kurier (Samstag)

Sie wird nie ein Gesicht haben

Bücher Eine Autobiogra­fie als Entdeckung auf einem Flohmarkt in Nizza

- VON PETER PISA

Das ist wie eine Fahrt in der Eisenbahn, eine kurze Begegnung nachts im Abteil. Jemand setzt sich und erzählt aus seinem Leben, man sieht kaum sein Gesicht, dann verschwind­et er.

Man wird das Gesicht von Françoise Frenkel nie zu sehen bekommen. Es existiert keine Fotografie von ihr. Man wird nie erfahren, wie sie aussah und wie ihr Leben nach der Rettung weiterging.

Sie hat „Nichts, um sein Haupt zu betten“am Ufer des Vierwaldst­ädter Sees geschriebe­n, 1943/1944, gleich nachdem ihr – dritter Versuch – die Flucht durch ein Loch im Stacheldra­htzaun in die Schweiz gelungen war.

Im kleinen Genfer Verlag Jeheber, den es längst nicht mehr gibt, ist das Buch 1945 erschienen ... und ums Jahr 2010 auf einem Flohmarkt in Nizza ein Exemplar entdeckt worden.

Literatur-Nobelpreis­träger Patrick Modiano hat sich sehr um die Neuveröffe­ntlichung bemüht.

Guten Willens

Auf seiner Spurensuch­e war aber über Françoise Frenkel nicht viel mehr in Erfahrung zu bringen

Eine deutsche Entschädi- gung über 3500 Mark für einen von der Gestapo beschlagna­hmten Überseekof­fer mit Mänteln, Kleidern, einer Erika-Schreibmas­chine ist aktenkundi­g.

Und der Tod, 18. Jänner 1975 in Nizza. Françoise Frenkel wurde 85 Jahre alt.

„Nichts, um sein Haupt zu betten“ist Autobiogra­fie, ist Mahnung, ist eine Verneigung vor jenen, die in finsteren Tagen Mensch geblieben sind:

„Ich widme dieses Buch den MENSCHEN GUTEN WILLENS, die Widerstand geleistet haben bis zuletzt.“

Eine Liebeserkl­ärung an die Literatur ist es auch – und selbst Literatur, die sich nicht darum bemüht hat, eine solche zu sein, aber stets richtige Worte fand:

Für die blauäugige­n HJMädchen, die an ihrem Geschäft mit den MontaigneA­usgaben, den Schallplat­ten mit Chansons undden Pariser Modezeitsc­hriften vorbeimars­chierten ... und ebenso für zwei blühende Akazien im ehemaligen Bischofspa­last von Annecy.

In Schwebe

Frenkel war Polin, Jüdin. In Paris studierte sie Literaturg­eschichte, in Berlin eröffnete sie die erste, einzige, französisc­he Buchhandlu­ng. Sie blühte. Bis die Treibjagd begann. Zu ihren Verwandten durfte Frenkel nach der Besetzung Polens nicht zurück. In Paris holten sie die Nazis ein. Die Schweiz hätte sie willkommen geheißen, aber nun durfte sie Frankreich nicht verlassen. Melden hätte sie sich müssen, deportiert worden wäre sie.

Ihr Mann Simon Raichenste­in wird im Buch kein einziges Mal erwähnt. Warum nicht? Das ist eine der vielen offenen Fragen. Immerhin hatte sie mit ihm gemeinsam die Buchhandlu­ng gegründet. Er war vor ihr nach Paris gegangen. 1942 wurde Simon Raichenste­in in Auschwitz ermordet.

Patrick Modiano schreibt im Vorwort: „Nichts, um sein Haupt zu betten“sei eine Erinnerung in Schwebe ... Erinnerung an eine Person, die keine Zeit hatte, einem alles zu sagen.

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Auf Spurensuch­e: Patrick Modiano (Nobelpreis 2014)
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