Auf den Spuren der Erinnerung
Die Historikerin Michaela Raggam-Blesch über jüdisches Leben in der Leopoldstadt im Nationalsozialismus
Kein anderer Wiener Bezirk wurde historisch so von der jüdischen Lebensweise geprägt wie die „Mazzesinsel“in der Leopoldstadt. Die jüdischen Wiener beeinflussten das Stadtleben kulturell, geistig und ökonomisch, bis die Shoah diese Welt brutal auslöschte. KURIER: Wo finden sich vergessene Spuren jüdischen Lebens in der Leopoldstadt? Michaela Raggam-Blesch: Nach dem Zweiten Weltkrieg war die jüdische Gemeinde komplett verarmt und hat deshalb die Grundstücke der zerstörten Tempel an die Stadt Wien verkauft, die dort Wohnanlagen errichtet hat. Die Gemeindebauwohnungen in der Leopoldsgasse und Zirkusgasse wurden so auf den Grundstücken des ehemaligen polnischen bzw. des sephardischtürkischen Tempels errichtet. Ein Zeichen dafür sind die Schilder und Steine der Erinnerung?
Zwischen dem 20. Bezirk und der Praterstraße könnte man vermutlich an jedem zweiten Haus eine Gedenktafel errichten, weil Juden hier vor der Deportation in Sammelwohnungen konzentriert wurden. Wie hat sich die Regierung gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus nach Kriegsende verhalten?
Es hat jahrelang gedauert, bis sich die Republik vom Narrativ des ersten Opfers abgekehrt hat. Das war ein völliger Affront für Leute, die aus Wien geflüchtet sind und sich an die Begeisterung der Wiener Bevölkerung erinnerten. Jüdinnen und Juden hingegen verloren nach dem „Anschluss“über Nacht jegliche Bürgerrechte. Welche Rolle hatte die Bevölkerung der Leopoldstadt damals?
Es wurde bald deutlich, dass jüdisches Leben in Wien unmöglich wurde. Deutschland war in fünf Jahren NSRegime nicht so weit wie Österreich in 24 Stunden. Demütigungen wie die „ReibPartien“hat es dort nicht gegeben. Gerade hier in der Leopoldstadt, wo die orthodoxe jüdische Bevölkerung gelebt hat, hat sich die HJ ein Spiel daraus gemacht, die Leute zu demütigen. Es war eine regelrechte PogromStimmung. Dabei war vor allem die Rolle der Hausmeister wichtig, die wussten, wo jüdische Mietpartei- en wohnten. Es gab aber auch einige, die sie vor Verhaftungen geschützt haben. Der Schriftsteller Doron Rabinovici meinte, dass in letzter Zeit wieder jüdisches Leben in der Leopoldstadt aufblühe.
Die orthodoxe Gemeinde rund umden Karmelitermarkt hat sich erhalten, obwohl man sie auslöschen wollte. Historisch ist die jüdische Gemeinde in Wien durch den Zuzug aus dem Osten entstanden. Nach dem Krieg sind viele auf dem Weg nach Israel oder in die USA hier gestrandet. Aber es sind sehr wenige jüdische Wiener nach dem Krieg zurückgekehrt. Wie ist die Stimmung heute?
Der Schritt von Xenophobie zu Antisemitismus ist ein kleiner. Nach dem Ersten Weltkrieg gab es eine Flüchtlingswelle nach Wien, 140.000 Menschen aus den östlichen Gebieten der Monarchie sind nach Wien gekommen, der Großteil davon war jüdisch. Durch den Zuzug der orthodoxen Bevölkerung war das Judentum sichtbarer und es kam zu einem Erstarken des Antisemitismus. Die Rhetorik ist zum Teil vergleichbar mit der von heute. Wozu stehen die kleinen Häuser vor jüdischen Institutionen?
Das sind Sicherheitsmaßnahmen. Darin sitzt Security-Personal der jüdischen Gemeinde, zumeist aus Israel. Es gibt immer wieder Anschläge auf jüdische Institutionen, vor allem in Frankreich, daher die strengen Sicherheitsmaßnahmen. Was wollen Sie mit Ihrem Buch „Topographie der Shoah“deutlich machen?
Wir versuchen, darin bedeutsame jüdische Orte sichtbar zu machen. Wie den jüdi- schen Friedhof beim 4. Tor am Zentralfriedhof. Als das Betreten der Parkanlagen für Juden verboten war, wurde der Friedhof zu einem wichtigen Freizeitort im Grünen. Man hat dort auch Gemüse angebaut, da die Lebensmittelrationen für Juden immer geringer wurden. Und es war der Spielplatz für Kinder im jüdischen Kinderheim.