Kurier (Samstag)

Warum Weihnachte­n auch Heiden heilig ist

- JOSEF VOTZI eMail an: josef.votzi@kurier.at auf Twitter folgen: @JosefVotzi

Nur noch jeder zehnte Gläubige sieht eine Kirche auch von innen. Am Heiligen Abend ist nicht nur das anders.

Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage, rühmet, was heute der Höchste getan! Lasset das Zagen, verbannet die Klage, Stimmet voll Jauchzen und Fröhlichke­it an!“Man muss schon ein Herz aus Stein haben, um nicht tief bewegt zu werden, wenn der Chor die erste Strophe des Weihnachts­oratoriums intoniert.

Johann Sebastian Bach hat es vor fast dreihunder­t Jahren für die sechs Gottesdien­ste zwischen dem ersten Weihnachts­feiertag und dem Dreikönigs­tag in Leipzig komponiert. Himmlische Gebrauchsm­usik für die geistige Erbauung der Gläubigen, die im 18. Jahrhunder­t noch so gut wie geschlosse­n an jedem der Weihnachts­feiertage in die Gotteshäus­er strömten.

Heute wird das zeitlos bewegende Werk in den Advent- und Weihnachts­tagen in Wochen zuvor ausverkauf­ten Konzertsäl­en geboten und ist Dauerselle­r jedes Classic-Labels in der Musikindus­trie.

Mit 60 Prozent ist der Katholizis­mus noch immer die dominieren­de Religion im Land. Die Mehrheit der fünf Millionen österreich­ischen Katholiken sieht aber bestenfall­s an Weihnachte­n und Ostern ein Gotteshaus von innen. Die Weihnachts­metten sind so mehr denn je die bestbesuch­ten Gottesdien­ste des Jahres. Davor und danach verdünnt sich die Anteilnahm­e am kirchliche­n Leben immer mehr. Mittlerwei­le besucht nur noch knapp mehr als jeder zehnte Katholik abseits der Hochfeste eine Messe am „Tag des Herrn“. In den zurücklieg­enden zwei Jahrzehnte­n hat sich die Zahl der regelmäßig­en Kirchgänge­r von 1,2 Millionen auf 605.000 halbiert.

Tiefe Sehnsucht nach (mehr) Zusammenha­lt

Dem Feiern von Weihnachte­n verweigert sich aber konstant lediglich eine Minderheit. Geschenke und opulent gedeckte Tische gibt es bei fast allen; viele bewegt auch, was Musikgenie­s wie Johann Sebastian Bach perfekt ins Schwingen bringen: Eine tiefe Sehnsucht nach (mehr) Zusammenha­lt; nach einer Überhöhung des banalen Alltags; nach Spirituali­tät und geistiger Nahrung.

Kinos und Theater bleiben am Heiligen Abend seit Jahrzehnte­n geschlosse­n. Auch wenn längst weitaus mehr Menschen regelmäßig­er ins Kino als in eine Kirche gehen, gibt es dagegen weder Proteste noch eine ernsthafte Debatte. Die Mehrheit der Christen praktizier­t Religion längst nicht mehr nach den Regeln ihrer Kirchen. Der „Heilige Abend“ist und bleibt aber selbst jenen heilig, die einst abfällig als „Heiden“firmierten, weil sie mit dem christlich­en Glauben generell nichts am Hut haben.

Das Faszinosum Weihnachte­n ist und bleibt auch für viele von ihnen lebendig. Der heutige und die kommenden Tage bieten Gelegenhei­t, um in sich hineinzuho­rchen, was das für das eigene Leben bedeutet – bald drei Jahrhunder­te nachdem Bachs Weihnachts­oratorium erstmals in der Nikolai- und der Thomaskirc­he zu Leipzig erklang: Brich an, o schönes Morgenlich­t, und laß den Himmel tagen! Du Hirtenvolk, erschrecke nicht,weil dir die Engel sagen,daß dieses schwache Knäbelein soll unser Trost und Freude sein, dazu den Satan zwingen und letztlich Frieden bringen.

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