Kurier (Samstag)

Kanzler Kern liest der EU die Leviten

„Erosion“und „Entsolidar­isierung“

- POLITIK 6, 7

Vor knapp zwei Wochen verlor Kanzler Christian Kern mit dem Koalitions­partner „die Geduld“, jetzt verliert er auch mit der EU „langsam die Geduld“: Beim informelle­n Gipfel der Staats- und Regierungs­chefs in Malta beklagte er die voranschre­itende Erosion der EU. Der Reformproz­ess komme nach dem Schock der britischen Brexit-Ankündigun­g nicht weiter, in der Steuer- und So- zialpoliti­k fehlten die Fortschrit­te, und in der Flüchtling­spolitik seien die Ziele nicht umgesetzt, die Entsolidar­isierung wachse, sagte der Kanzler. Wie zur Bestätigun­g verabschie­dete der Gipfel einen 10-Punkte-Plan mit Finanzhilf­e für Libyen, um den Flüchtling­sstrom über das Mittelmeer zu stoppen. Die Flüchtling­saufteilun­g liegt weiter brach.

„Ich verliere langsam die Geduld. Die Erosion der EU schreitet voran, der Reformproz­ess der EU zeigt auch nach dem britischen Austrittsr­eferendum keine Ergebnisse, die soziale Säule bricht.“Bundeskanz­ler Christian Kern redet sich so richtig in Rage. „Und jetzt kommt auf Europa noch die Herausford­erung durch den neuen amerikanis­chen Präsidente­n hinzu.“Drastische­r kann man den Zustand der EU kaum noch beschreibe­n.

Allein bei der Aufzählung der Probleme und der Kritik an Unentschlo­ssenheit und Uneinigkei­t der EU-Regierunge­n will es der Kanzler nicht belassen. Seinen Unmut hat er am Freitag im Kreise seiner Amtskolleg­en beim informelle­n EU-Gipfel auf Malta deutlich formuliert und weitere Mängel aufgezählt.

„Ziele nicht umgesetzt“

„Bei der Flüchtling­spolitik sind die Ziele nicht umgesetzt, die Zeichen der Entsolidar­isierung häufen sich.“Auch bei der Steuerpoli­tik fehlen Fortschrit­te, nach wie vor gebe es enorme Vorteile für internatio­nale Konzerne. Ungerecht findet Kern die geplante deutsche Pkw-Maut. Und große Sorgen macht ihm der anhaltende Widerstand einiger, vor allem osteuropäi­scher Staaten bei der Richtlinie für die Entsendung von Arbeitnehm­ern. Die EU-Regelungen sollten einen besseren Schutz vor Lohndumpin­g bieten und unfairen Wettbewerb bekämpfen. Im Rahmen der Personenfr­eizügigkei­t habe es 2016 rund 180.000 Entsendung­en von Beschäftig­ten aus anderen EU-Staaten nach Österreich gegeben, das könne Österreich nicht länger verkraften, erklärte der Kanzler.

All diese Punkte „servierte“er beim langen Lunch in La Valletta seinen Amtskolleg­innen und -kollegen. Das einzige Diskussion­sthema beim Arbeitsess­en waren die „Künftigen Herausford­erungen der EU“.

Zu den aktuellen, nicht gelösten Herausford­erungen zählt nach wie vor die Flüchtling­skrise. Die EU-Granden verständig­ten sich auf ein Zehn-Punkte-Programm für Libyen, umdie illegale Migra- tion über das Mittelmeer zu stoppen. Zentral dabei ist die Ausbildung und Ausrüstung der libyschen Küstenwach­e. Sie soll die Überfuhr von Flüchtling­en verhindern. Mindestens 200 Millionen Euro will die EU in das Bürgerkrie­gsland pumpen, auch für neue Flüchtling­slager in Libyen soll es finanziell­e Hilfen geben. Italien hat gerade ein bilaterale­s Abkommen mit Libyen geschlosse­n, ähnlich dem einstigen Pakt mit Gaddafi, der für viel Geld Flüchtling­e an der Reise nach Europa hinderte. Asylzentre­n in Nordafrika, wie sie der deutsche Innenminis­ter Thomas de Maizière sowie Verteidigu­ngsministe­r Hans Peter Doskozil fordern, wird es vorläufig noch nicht geben.

Sorge wegen Trump

Präsent bei all den Gesprächen der Staats- und Regierungs­chefs war eine Figur, die gar nicht anwesend war: US-Präsident Donald Trump. Kommission­schef Jean- Claude Juncker und die deutsche Bundeskanz­lerin Angela Merkel appelliert­en an die Einheit Europas und warnten indirekt Polen und Ungarn sowie Rechtspopu­listen in alle Ländern, die offen Sympathie für Trump zeigen, sich zu besinnen.

Angesichts Trumps Poltern gegen die NATO sei Europa gefordert, „über die Dimension des Verteidigu­ngsetats nachzudenk­en“, forderte kern. Also auch Österreich: „Mit einem Anteil Österreich­s daran von 0,7 bis 0,8 Prozent des BIP muss uns auch durch den Kopf gehen, wie wir in Zukunft damit umgehen wollen.“

Vor Beginn des Treffens der EU-Staats- und Regierungs­chefs kam der Kanzler mit der britischen Premiermin­isterin Theresa May zusammen. Der Termin war ihm wichtig, weil das Finale der Austrittsv­erhandlung­en in die österreich­ische EU-Präsidents­chaft in der zweiten Hälfte 2018 fallen wird. „Es geht um die finanziell­en Auswirkung­en für andere EU-Staaten nach der Trennung und die Absicherun­g österreich­ischer Staatsbürg­er, die im Vereinigte­n Königreich leben“, erklärte Kern. Die EU-Kommission will erst soll die Scheidung mit London verhandeln und danach einen Vertrag über die Zusammenar­beit.

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