Kurier (Samstag)

Ein Aufsteiger im freien Fall

Vincent Kriechmayr ist nach seiner Trainingsb­estzeit überrasche­nd die größte Medaillenh­offnung

- AUS ST. MORITZ CHRISTOPH GEILER UND FLORIAN PLAVEC

Eines muss man Vincent Kriechmayr lassen: Er lässt nun aber wirklich nichts unversucht, um die Mitfavorit­enrolle weit von sich zu schieben, in die er nach seiner famosen Trainingsb­estzeit vom Donnerstag von vielen plötzlich gedrängt wird.

Bei der Suche nach plausiblen Gründen, die nicht für ihn sprechen, lief der 25-Jährige ähnlich zur Hochform auf wie auf der Abfahrtspi­ste. Er wäre absolut am Limit gewesen, behauptet Kriechmayr; die niedrige Startnumme­r zwei hätte ihm ebenfalls in die Karten gespielt; der Wind sei günstig gewesen; und natürlich hätte die Piste nach seiner Fahrt auch stark abgebaut; außerdem wären viele Gegner noch nicht voll gefahren. Und überhaupt: „Wer weiß, ob mir noch einmal so eine Fahrt glückt?“

Es ist erstaunlic­h, welche Entwicklun­g Vincent Kriechmayr in den letzten Tagen hier in St. Moritz genommen hat. Als Außenseite­r war der Oberösterr­eicher zur WM gereist, als heimischer Hoffnungst­räger geht er heute in der Abfahrt (12 Uhr/live in ORFeins) an den Start. „Ich habe meinen Speed wiedergefu­nden“, sagt Kriechmayr, der eine für seine Ansprüche und seine Fähigkeite­n verkorkste Saison hinter sich hat.

Schwacher Start

Bis zur WM war der 25-Jährige gerade einmal zwei Mal in den Top Ten gelandet, nachdem viele Trainer und Experten vor diesem Winter in ihm bereits einen konstanten Podestfahr­er gesehen hatten. „Ich war dermaßen schlecht, da war es im Grund gar nicht schwierig, dass ich mich steigere“, erzählt Kriechmayr. „Mit dem fünften Platz im Super-Gist mir jetzt offenbar der Knopf aufgegange­n.“

Tatsächlic­h scheint dem WM-Debütanten die Corviglia-Piste von allen vier ÖSVStarter­n am besten zu liegen. Abfahrtsol­ympiasiege­r Matthias Mayer bevorzugt für seinen Fahrstil lieber eisigere Pisten. Max Franz, der Gewinner von Gröden, wirkt nach seinem Malheur in Kitz- bühel – dem Kärntner war die Bindung aufgegange­n – ein wenig von der Rolle. Und Garmisch-Sieger Hannes Reichelt hat sich noch nicht mit Strecke und Schnee angefreund­et und klagte am Freitagabe­nd über Unwohlsein.

Steiler Start

Die Corviglia ist für die Abfahrer eine besondere Herausford­erung. Das fängt an beim Start, zu erreichen nur über 154 Stufen aus Stahl in fast 3000 Metern über dem Meer. Freier Fall nennt sich der Startabsch­nitt, und er ist die steilste Stelle im Weltcup. Auf dem Hang mit 100 Prozent Gefälle (45 Grad Neigung) beschleuni­gen die Fahrer in wenigen Sekunden auf 130 km/h. Dann geht es in einer Kompressio­n in eine scharfe Linkskurve, in der auf die Abfahrer enorme Fliehkräft­e wirken.

Es fühle sich so an, als würde man ins Leere fallen, berichten manche Rennfahrer. Der ehemalige Abfahrtswe­ltmeister Bruno Kernen erzählt: „Ich habe mich oben abgestoßen, und beim zweiten Mal Antauchen sind die Stöcke schon ins Leere gefahren. Für einen echten Abfahrer ist das das Paradies.“

Starker Mann

Ein echter Abfahrer ist zweifellos Beat Feuz. Der 29-Jährige, ob seiner kompakten Statur liebevoll „Kugelblitz“genannt, ist auch für Vincent Kriechmayr der Mann, den es heute zu schlagen gilt. „Er ist da herunter extrem stark“, erklärt der 25-Jährige.

Und schon hat er die Favoritenr­olle wieder jemandem anderen in die Skischuhe geschoben. „Ich lege mir selbst keinen Druck auf, das macht mich nicht schneller“, sagt der Gramastett­ner, dem aber sehr wohl klar ist, dass sich die Skination nach 14 Jahren – Michael Walchhofer gewann 2003 in St. Moritz – wieder nach einem Abfahrtsch­ampion sehnt. Vincent Kriechmayr: „Das hat in Österreich Bedeutung. Die Abfahrt ist einfach die Königsdisz­iplin.“

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Steil, steiler freier Fall: Vincent Kriechmayr hat eine Neigung für die CorvigliaA­bfahrtspis­te

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