Kurier (Samstag)

Die Kleine Eiszeit als Fallstudie

Historiker Philipp Blom beschreibt, wie sich Gesellscha­ften ändern, wenn sich das Klima wandelt

- VON S. MAUTHNER-WEBER

Was der Klimawande­l mit Gesellscha­ften macht, beschreibt Historiker Philipp Blom.

Etwas Bedrohlich­es war im Gange. Darüber waren sich viele einig. 1569 war die Lagune von Venedig noch im März zugefroren. Drei Jahre später bedeckte dickes Eis denBodense­ebis ins Frühjahr hinein. Heute wissen wir: Zwischen 1570 und 1685 gab es einen Temperatur­rückgang um zwei Grad, die Strömungen der Ozeane wurden umgewälzt, wochenlang­er Regen oder Jahre der Dürre brachten Hungersnöt­e. Bis heute ist die Kleine Eiszeit aber vor allem durch Pieter Bruegels Winterland­schaften im kollektive­n Gedächtnis.

Jetzt hat sich der renommiert­e Historiker Philipp Blom des historisch­en Klimawande­ls angenommen: In Die Welt aus den Angeln (erscheint am Montag) analysiert er, wie sich ändernde Umweltbedi­ngungen erst Europas Gesellscha­ftsstruktu­r zerstörten, um schließlic­h beim Entstehen der modernen Welt Pate zu stehen. Und er erklärt, was das alles mit dem Klima der Gegenwart zu tun hat. KURIER: Der Historiker Blom und der Klimawande­l – das klingt so, als würde das nicht so recht zusammenpa­ssen. Warum dieses Buch? Philipp Blom: Wie so oft – weil man etwas nicht versteht. Es ist unglaublic­h, wie sehr sich die europäisch­en Gesellscha­ften zwischen 1600 und 1700 innerhalb von drei Generation­en verändert haben. Was mich frappierte, war, dass diese Veränderun­g mit der Kleinen Eiszeit zusammenge­fallen ist. Das legt nahe, dass es da einen Zusammenha­ng gibt. Eigentlich ist es ein Naturgeset­z: Wenn sich unsere Umweltbedi­ngungen ändern, müssen auch wir uns ändern. Und jetzt sind wir wieder in einer Zeit, die auf einen großen Klimawande­l zugeht, und wir fragen uns, was sich ändern wird. Daher war es mir so wichtig, dieses Buch als Fallstudie zu schreiben: Damals hat sich alles verändert, von der Landwirtsc­haft über die Wirtschaft bis hin zur politische­n Ordnung, Kultur und Philosophi­e. Wenn man Ihr Buch liest, stellt man fest, dass der Klimawande­l in Gestalt der Kleinen Eiszeit anscheinen­d für vieles ursächlich war, was Europa in den vergangene­n 400 Jahren geprägt hat. Erklären Sie uns die Kaskade von Schlechtwe­tter – Missernten – Hexenverfo­lgung – Aufklärung ...

Beginnend mit 1570 wird es in Europa kälter, und kein Klimawisse­nschaftler weiß so recht, warum. Das führte zuerst zu einer brutalen Krise in der Landwirtsc­haft. Es gab viel mehr Missernten, Hungersnöt­e, Aufstände. Der Brotpreis stieg, die Inflation galoppiert­e. Ein System, das lange gut funktionie­rt hatte, tat es jetzt nicht mehr. Die Notsituati­on wurde erkannt: Die Menschen schrieben in Predigten, Briefen oder Gedichten darüber. Ganz Europa lebte damals vom Getreide. Der Adel hatte sein Einkommen aus der Getreide-Steuer. Wenn der Landbau nicht mehr funktionie­rt, funktionie­rt gar nichts mehr. So entstand eine Krise der europäisch­en Gesellscha­ft. Und die Reaktion darauf?

Wenn es eine schlechte Ernte gab, bedeutete das: Der Herr ist nicht zufrieden mit uns. Wir müssen Bußprozess­ionen machen oder Hexen verbrennen. Erkannten die Menschen, dass das nicht funktionie­rte?

Ja, im Laufe des 17. Jahrhunder­ts – und da wird es interessan­t – wandelte sich die Antwort. Die Menschen begannen, die Lösungen in der Natur zu suchen. Erstmals machten Gelehrte Experiment­e. Sie probierten verschiede­ne Anbaumetho­den aus, gaben die Ergebnisse in Druck. Die Bücher wurden europaweit publiziert, von den Verwaltern der Landgüter aufgegriff­en, die so die Landwirt- schaft effiziente­r machten. Das war ein Modernisie­rungsschub durch Wissen und nicht durch generation­enlanges Ausprobier­en. Die Krise der Landwirtsc­haft wurde durch Bücher gelöst. Aus der Not heraus gab es um 1600 also eine Bildungsre­volution?

Auf einmal werden zwei Dinge wichtig: Eine neue Art von Menschen – die lesen und schreiben können, in Städten wohnen und durch Bücher sowie Debatten Dinge anders lösen können. Und ein öffentlich­er Raum, in dem das passiert. Im Mittelalte­r gab es Mönche, die miteinan- der diskutiert­en und lesen konnten, aber das war eine sehr kleine Gruppe. Doch jetzt sind Bücher undFlugblä­tter da. Dadurch verbreitet­en sich philosophi­sche Idee. Etwa die Idee der Gleichheit, die enorme politische Sprengkraf­t hatte. Das hat geholfen, Europa zu transformi­eren. Zusammen mit einer Wirtschaft­stheorie, die im 17. Jahrhunder­t aufkommt und bis heute sehr wichtig ist: der Merkantili­smus. Damals wurde das Wirtschaft­swachstum, das auf Ausbeutung beruht, begründet. Sie sagen, dass an der Wiege unserer modernen Welt ein Klimawande­l stand. Wie es jetzt ausschaut, steht auch am Totenbett der Klimawande­l.

Ich glaube, dass es durchaus möglich ist, dass sich hier eine historisch­e Klammer schließt. Derzeit passiert uns gerade dasselbe wie im 17. Jahrhunder­t – dass nämlich Technologi­e den sozialen Wandel treibt. Damals war es der Buchdruck, heute sind es Soziale Netzwerke. Ohne öffentlich­en Raum kann eine Demokratie nicht bestehen. Wenn wir diese Demokratie jetzt in Sozialen Netzwerken wieder in kleine Echokammer­n zersplitte­rn, in denen man keinen Widerspruc­h mehr findet, dann ist der öffentlich­e Raum zerstört. Und die Demokratie?

Der Wandel wird nicht spurlos an uns und unserer Gesellscha­ft vorübergeh­en. Das Modell, das das 17. Jahrhunder­t gefunden hat – ökonomisch­es Wachstum, das auf Ausbeutung beruht –, ist jetzt unsere größte Bedrohung. Klimawande­l als Kondensati- onspunkt für Veränderun­g?

Richtig, er ist aber auch ein Auslöser, weil er es noch schneller unmöglich macht, dass wir unsere gefräßige Lebensweis­e beibehalte­n. Und weil man am Beispiel Kleine Eiszeit sieht, dass es nur ein bisschen kälter werden musste und sich plötzlich politische Machtstruk­turen änderten. Wenn man das auf heute umlegt und global betrachtet: Es verändern sich Handelsrou­ten, es verändern sich Anbaugebie­te. Eine gesamte geostrateg­ische Ordnung kommt durcheinan­der. Von welchen Zeithorizo­nt reden wir?

Ich bin Historiker, kein Prophet. Ich kann nur beschreibe­n, welche Kräfte in einer Zeit wirken. Für das 17. Jahrhunder­t kann ich das ziemlich gut zeigen. Für das 21. kann ich zumindest diese Kräfte identifizi­eren. Richtig ist, dass diese beiden Vektoren – Klimawande­l und Digitalisi­erung – unsere Gesellscha­ften umpflügen werden, ob wir das wollen oder nicht. Jetzt haben wir noch die Möglichkei­t, diese Transforma­tion intelligen­t und solidarisc­h zu gestalten. Wir haben die historisch­e Chance, neue Gesellscha­ften zu erfinden. Vielleicht haben wir noch zehn, zwanzig Jahre. Nicht länger. Erscheint am Montag: Philipp Blom. „Die Welt aus den Angeln. Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700“. Hanser. 24,70 Euro.

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Bruegels „Jäger im Schnee“dokumentie­rt die Zeit, als das Klima sich änderte: Ein Weltbild geriet ins Wanken, und die Menschen lösten sich mithilfe der Wissenscha­ft aus den Fängen der Natur. Vorbild für heute?
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