Kurier (Samstag)

Musik gegen den Lärm

Der Komponist Schostakow­itsch wird nicht verurteilt, er hat es selbst getan

- VON PETER PISA

Als der Lärm der Welt so laut war, dass die Fenstersch­eiben zersprange­n, stellte sich Nacht für Nacht ein Mann vor seine Leningrade­r Wohnung im fünften Stock.

Wer im Nachthemd aus dem Bett gezerrt wird, der kommt nicht mehr zurück.

Deshalb stand Schostakow­itsch vor dem Aufzug.

Und er wollte nicht, dass seine kleine Tochter geweckt wird und seine Frau, die aber sowieso nicht schlafen konnte .

31 war er damals. Am Bein lehnte ein kleiner Koffer mit Unterwäsch­e und Zahnputzze­ug.

Schostakow­itsch rauchte und wartete auf Stalins Schergen. Sie kamen nicht. Manchmal gehört es zum Terror, dass niemand kommt. Indem mandenKomp­onisten leben ließ, tötete man ihn.

Erhebung

Dmitri Schostakow­itsch ist Literatur geworden. Nicht einmal seinen populären Walzer Nr. 2 aus der VarietéSui­te wird man jetzt als recht heiter empfinden können.

Der große Erzähler Julian Barnes zeigt den Krieg im großen russischen Komponiste­n bzw. generell im Künstler unter totalitäre­r Herrschaft.

Barnes schrieb einen Monolog / einen Essay mit gelegentli­chen Anekdoten / eine fiktive Biografie, die wenig fiktiv ist: „Der Lärm der Zeit“.

(Blenden wir nur kurz die schrecklic­h gute Anekdote ein: Als die mit Schreibver­bot belegte Anna Achmatowa in Leningrad aus ihren Werken vortrug, stand das Publikum auf und applaudier­te. Stalin, als er davon erfuhr, fragte: „Wer hat die Erhebung organisier­t?“)

Wie überlebt ein Künstler solche Zeit? Darf er überhaupt überleben, indem er sich der Macht beugt?

Beruhigte es Schostakow­itsch, dass seine Musik manchmal den Lärm übertönte und kurzzeitig Erlösung brachte?

Angst

Er wartete auf die Verhaftung, weil Stalin 1936 seine Loge während „Lady Macbeth von Mzensk“verlassen hatte. Die Prawda schrieb daraufhin, diese Oper sei ein Gequake, Gegrunze, primitiv. Das konnte das Ende bedeuten. Und dann wurden auch noch Freunde wegen angebliche­r Verschwöru­ng beseitigt.

Absofort komponiert­e die Angst mit.

Im zweiten Teil von „Der Lärm der Zeit“ruft Stalin an und befiehlt Schostakow­itsch, mit einer Delegation nach NewYork zu reisen: zum Kongress für den Weltfriede­n. Dort hielt er 1948 vorgeferti­gte Reden und beleidigte darin Strawinsky (der schon US-Staatsbürg­er war).

Schostakow­itsch vergöttert­e Strawinsky. Trotzdem ... Und, Teil drei, nun regierte Chruschtsc­how, und man hätte weniger Angst haben müssen, ließ er sich (weinend) zur Mitgliedsc­haft in der KPdSU zwingen bzw. unterzeich­nete einen bösen Brief an Solscheniz­yn.

Schostakow­itsch verehrte Solscheniz­yn.

Trotzdem ...

Meditation

Julian Barnes hatte Elizabeth Wilson zur Seite, von der die Monografie „Shostakovi­ch: A Life Remembered“stammt. (Ist nie übersetzt worden.)

Diese Londoner Autorin und Musikerin, die bei Rostropowi­tsch Cello studiert hatte, versorgte ihren Landsmann mit Material, und Barnes konnte „dazudichte­n“, Wörter zu Musik machen.

Er meditiert über Verrat. Er verurteilt nicht, aber ärgert sich, weil „Schosta“dachte, alle würdendieI­ronie hinter seinen Untaten erkennen und in seinen Kompositio­nen hören, wie er in Wahrheit denkt.

Aber man kann nicht ironisch in eine Partei eintreten. Es gibt keine ironische Folter und keine ironischen Folteropfe­r.

Was macht dieses so leichte, so schwere Buch mit uns? Es versucht, schnelles Urteilen zu verhindern.

(Ausnahmen darf es aber schon geben, bei Trump und und und.)

 ??  ?? Dmitri Schostakow­itsch wartete auf Stalins Schergen
Dmitri Schostakow­itsch wartete auf Stalins Schergen
 ??  ?? Julian Barnes machte mit Worten große Musik
Julian Barnes machte mit Worten große Musik
 ??  ?? Julian Barnes: „Der Lärm der Zeit“Übersetzt von Gertraude Krueger. Kiepenheue­r & Witsch. 256 Seiten. 20,60 Euro.
Julian Barnes: „Der Lärm der Zeit“Übersetzt von Gertraude Krueger. Kiepenheue­r & Witsch. 256 Seiten. 20,60 Euro.
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