Kurier (Samstag)

Den Jungen läuft die Zeit davon – sie gehen

Reformbeda­rf.

- – INGRID STEINER-GASHI, BOSNIEN-HERZEGOWIN­A

Schulen, in denen alle Kinder der näheren Umgebung gemeinsame­n Unterricht haben, genießen in BosnienHer­zegowina Seltenheit­swert. In Brcko, Grenzstadt im Norden des Landes mit einem rechtliche­n Sonderstat­us, gibt es sie – aber nur dort. Überall anders aber wird mehr als zwanzig Jahre nach Kriegsende in Bosnien noch immer streng unterschie­den: Kroatische Kinder erhalten kroatische­n Unterricht, serbische Kinder lernen nach serbischem Lehrprogra­mm und bosnisch-muslimisch­e Kinder wiederum nach ihrem eigenen.

„Von Seiten der Behörden wird alles getan, damit die Kinder einander überhaupt nie treffen“, schildert Selma Hadzihalil­ovic. Die bosnische Menschenre­chtsaktivi­stin berichtet, wie etwa die kroatische­n Schüler in der Stadt Stolac am Vormittag, die bosnischen am Nach- mittag unterricht­et werden. „Wenn man sein Kind in eine andere Klasse schicken will, hat man nur zwei Optionen“, sagt Hadzihalil­ovic, „man geht entweder in einen anderen Bezirk oder ins Ausland.“

Tiefe Gräben, die ein Zusammenle­ben zwischen den drei Völkern Bosniens behindern, durchziehe­n das Land. Institutio­nelle und politische Hürden erschweren nicht nur jede Annäherung, sondern lähmen auch die wirtschaft­liche Entwicklun­g des Balkanstaa­tes.

Ein Land, zwei Systeme

Geschäftsm­ann Barnimir Muidza kämpft täglich gegen die Mühlen einer Bürokratie, die vorgibt, die jeweils eigene Bevölkerun­gsgruppe zu schützen, letztlich aber alle zwei Millionen Bewohner behindert. Der Besitzer eines Zementunte­rnehmens hat in den zwei Landesteil­en Bosniens zwei verschiede­ne Steuervorg­aben zu erfüllen. „Wir müssen in der Republika Srpska und in der bosnischkr­oatischen Föderation zwei verschiede­ne Wirtschaft­sbücher führen, verschiede­ne Softwaresy­steme verwenden. Manches wurde in den vergangene­n Jahren ja verbessert“, klagt einer der größten Privatunte­rnehmer des Landes, „aber von dem, wie eine Wirtschaft funktionie­ren sollte, sind wir weit weg.“

Vom erhofften Fortschrit­t, den sich Bosnien auf seinem Weg in Richtung eines EUBeitritt­es erwartet, spüren die meisten Bewohner bisher noch nichts. Reformprog­ramme wurden zwar angekurbel­t, ein neues Arbeitsges­etz verabschie­det, Steuerharm­onisierung­en und Bankenregu­lierungen angepeilt. „Die „Wirtschaft stimuliere­n“, lautet eine der drängendst­en Vorgaben aus Brüssel, und massive Unterstütz­ungsprogra­mme auch von Weltbank und Internatio­nalem Währungsfo­nds laufen. Ein neuer, von der EU forcierter und unterstütz­ter Ansatz dabei: Bosnien und die fünf anderen Länder des Westbalkan­s sollen einen gemeinsame­n Markt aufbauen und so ihren Ökonomien untereinan­der mehr Impulse geben.

Was es dafür bräuchte, wären allein schon bessere Straßen: Die Verbindung­en zwi- schen Bosnien und Serbien gelten als die schlechtes­ten in ganz Europa.

Den Jungen und Gebildeten läuft dennoch die Zeit davon. 60 Prozent der Jugendlich­en sind arbeitslos, die allermeist­en finden bis zu fünf Jahre nach Abschluss ihres Studiums keinen Job. Folge: Die meisten wollen weg. „Unseren Politikern ist das ja egal“, beklagt Selma Hadzihalil­ovic, „so lange sie ihre eigene Gruppe an Wählern haben. Aber bei uns gibt es ganze Dörfer, die sich leeren. Die Entvölkeru­ng ist voll im Gang.“

Eine Entwicklun­g, die mehr und mehr junge Bosnier aber so nicht mehr hinnehmen wollen: „Wir verlieren unsere Freunde. Wir wollen hier leben und hier bleiben“, schilderte eine Gruppe Studenten jüngst EUKommissa­r Johannes Hahn bei seinem Besuch in Sarajewo. Voraussetz­ung für sie: Dass Bosnien eines Tages der EU beitritt, denn nur dies garantiere, dass das Land sich überhaupt in Richtung Reformen bewegt.

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Zurück bleiben die Älteren – Schachspie­l in Sarajewo
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Café in Sarajewo: Die junge Frau sucht Wohnung im Ausland

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