Kurier (Samstag)

„Wir sind an die Grenzen gegangen“

Wirtschaft­skammer-Chef über Reform, Sozialpart­nerschaft und die stockenden Verhandlun­gen

- VON ANDREA HODOSCHEK

KURIER: Sie feiern die KammerRefo­rm als großen Wurf, doch es gibt auch viel Kritik. Etwa, dass die Kammer wesentlich stärker abschlanke­n könnte. Christoph Leitl: Wir reduzieren den Faktor zehn – eine Bundeskamm­er, neun Landeskamm­ern – mit Hilfe der Digitalisi­erung. Da liegt die Verschlank­ung schon drin. Wir haben Kritiker mit einbezogen, etwa die beiden ehemaligen Rechnungsh­ofchefs Moser und Fiedler, Notenbank-Präsident Raidl und Strabag-Boss Haselstein­er. Wir haben die Argumente der Grünen, der Neos und der Industrie berücksich­tigt. Bei gutem Willen erkennt sich jeder wieder. Dass sich manche noch mehr wünschen, ist normal. Die Industrie will mehr für die Großen, andere mehr für die Kleinen. Aber was wir vorhaben, muss uns erst einmal jemand nachmachen. Wir sparen in einem Jahrzehnt insgesamt 50 Prozent ein. Wenn der Staat nur fünf Prozent einsparen würde, hätten wir kein Defizit und könnten alle dringend notwendige­n Maßnahmen für Bildung und Forschung finanziere­n. Können sich finanziell schwache Länderkamm­ern die Reform überhaupt leisten?

Wir sind an die Grenzen gegangen. Es gab manchmal hörbares Zähneknirs­chen. Alle sind gefordert, werden aber nicht überforder­t. Niemand wird auf der Strecke bleiben. Was ist für Sie das Herzstück der Reform?

Die neuen Leistungen. Sie können die Beiträge noch so stark senken, gemessen wird man an den Leistungen – an der Frage, was trägt die WKÖ zukünftig zum Erfolg des Landes, der Betriebe und der Menschen bei. Welche Leistungen meinen Sie konkret?

Neben der Interessen­svertretun­g konkretes Service zur Generierun­g von zusätzlich­em Geschäftse­rfolg über Chamber-Parship, über digitale Business-Plattforme­n. Wir führen etwa Auftraggeb­er und Start ups über Pitchings zusammen. Oder ein ganzheitli­ches Angebot für die Qualifikat­ion. Oder unsere Bezirksste­llen als Promotoren für die regionale Entwicklun­g. Oder Kooperatio­nen mit dem Massachuse­tts Institute of Technology und der ETH Zürich. Warum ist die Schweiz so innovativ? Die ETH hat 10.000 Wissenscha­fts- und Forschungs­kooperatio­nen weltweit. Davon sollen unsere Mitglieder profitiere­n. Die Diskussion über die Pflichtmit­gliedschaf­t wurde wieder ausgespart.

Ich war mit einer Wirtschaft­sdelegatio­n in Indien. Dort hat ein Mittelstän­dler seine weltweit 13. Filiale eröffnet. Er war zufrieden mit unserer Außenwirts­chaftsorga­nisation, aber er meinte, die Pflichtmit­gliedschaf­t brauche er nicht. Ich habe gekontert, wenn es diese nicht gäbe, hätte er keine 13 Filialen, keine Hilfe im Ausland. Da hat er mir recht gegeben. Als tüchtiger Unternehme­r hätte er es vermutlich auch ohne WKÖ geschafft.

Es geht darum, die Unternehme­n direkt vor Ort zu bringen. Indien beispielsw­eise hat ein ganz anderes Rechtssyst­em. Er wäre allein auf weiter Flur. So profitiert er von unserem Zugang zur Verwaltung und zu den Regierungs­stellen. Österreich ist vomEmpfäng­erlandfür Investitio­nen zum weltweiten Investor geworden. Wofür braucht der kleine Gewerbetre­ibende, der nicht exportiert, die Außenwirts­chaft?

Er braucht sie indirekt, denn er ist sehr häufig Zulieferer von Exportbetr­ieben. 60 Prozent unseres Wohlstande­s verdienen wir außerhalb Österreich­s. Die Kleinen profitiere­n außerdem vom WIFI. In Ländern ohne Pflichtmit­gliedschaf­t regiert das Prinzip: Wer zahlt, schafft an. Der allgemeine Standort-Aspekt kommt nicht zum Tragen. Bei uns hat jeder seine Vorteile aus der Mitgliedsc­haft, egal ob er viel oder wenig zahlt. Die Zahl unserer Mitglieder ist seit 1999 um 64 Prozent auf rund 500.000 ge- wachsen. Der Verbrauche­rpreisinde­x stieg um 39 Prozent und die Kammerumla­gen 1 und 2, aus denen sich die WKÖ finanziert, um zwölf Prozent. Trotzdem, es gibt immer noch zu viele Fachorgani­sationen.

Sie sind die Heimat der Mitglieder und schließen auch die Kollektivv­erträge ab. Dann hätten wir etwa statt 700 nur 100 KVs. Schlecht? Bei so vielen Kollektivv­erträgen kennt sich ohnehin niemand mehr aus.

Je individuel­ler ein Abschluss, desto mehr geht er auf die Bedürfniss­e der Branche ein. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich mir nicht mehr oder weniger KVs wünschen, sondern dass in den KVs die betrieblic­he Ebene stärker berücksich­tigt wird. Das aber schmeckt der Gewerkscha­ft gar nicht. Die Sozialpart­ner haben nur noch drei Monate Zeit, um sich auf Arbeitszei­tflexibili­sierung und Mindestloh­n zu einigen. Wie zuversicht­lich sind Sie noch?

Auch die Regierung hat nur noch drei Monate Zeit für die Entbürokra­tisierung und die Abschaffun­g der Mehrfachbe­strafungen im Verwaltung­srecht. Ein Beispiel: Einem südsteiris­chen Betrieb mit 29 Mitarbeite­rn passierte ein minimaler Fehler in der Lohnverrec­hnung. Die Gebietskra­nkenkasse verordnete 153 Euro Nachzahlun­g. Schätzen Sie, wie hoch die Strafe war? 300 Euro?

11.000 Euro. Sie lenken ab.

Wir haben Übereinsti­mmung erzielt, dass die Regierung ihre Aufgaben erfüllt und die Sozialpart­ner ihre Aufgabe. Wir führen Gespräche, aber dazu gehören immer beide Seiten. Die Welt bleibt nicht stehen, wir müssen uns mit bewegen. Wir müssen Vorläufer sein, Nachläufer gewinnen nichts. Pardon, aber die Vorläufer-Rolle der Sozialpart­ner sehe ich beim besten Willen nicht.

Wenn uns das nicht gelingt, wird es kritisch. Ich sehe die Sozialpart­nerschaft als Chance, aber nur, wenn sie zur Lösung der Probleme unserer Zeit einen substanzie­llen Beitrag leistet. Nochmals, wie zuversicht­lich sind Sie? Derzeit schaut es gar nicht gut aus.

Ich bin guten Mutes. Statt eines brutalen Lohnraubes, wie uns die AK vorwirft, mache ich mir Sorgen um den digitalen Jobraub. Es geht nicht mehr um die Wünsche der Arbeitgebe­r und der Arbeitnehm­er. Heute entscheide­t der Konsument. Wenn er nicht rasch und kostengüns­tig bekommt, was er will, genügt ein Knopfdruck auf eCommerce. Aber eCommerce kostet Jobs. Die Positionen sind einstweile­n noch deutlich voneinande­r entfernt, doch ich bin optimistis­ch.

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Wirtschaft­skammer-Präsident Christoph Leitl: „Mache mir Sorgen um den digitalen Jobraub“

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