„Wir sind an die Grenzen gegangen“
Wirtschaftskammer-Chef über Reform, Sozialpartnerschaft und die stockenden Verhandlungen
KURIER: Sie feiern die KammerReform als großen Wurf, doch es gibt auch viel Kritik. Etwa, dass die Kammer wesentlich stärker abschlanken könnte. Christoph Leitl: Wir reduzieren den Faktor zehn – eine Bundeskammer, neun Landeskammern – mit Hilfe der Digitalisierung. Da liegt die Verschlankung schon drin. Wir haben Kritiker mit einbezogen, etwa die beiden ehemaligen Rechnungshofchefs Moser und Fiedler, Notenbank-Präsident Raidl und Strabag-Boss Haselsteiner. Wir haben die Argumente der Grünen, der Neos und der Industrie berücksichtigt. Bei gutem Willen erkennt sich jeder wieder. Dass sich manche noch mehr wünschen, ist normal. Die Industrie will mehr für die Großen, andere mehr für die Kleinen. Aber was wir vorhaben, muss uns erst einmal jemand nachmachen. Wir sparen in einem Jahrzehnt insgesamt 50 Prozent ein. Wenn der Staat nur fünf Prozent einsparen würde, hätten wir kein Defizit und könnten alle dringend notwendigen Maßnahmen für Bildung und Forschung finanzieren. Können sich finanziell schwache Länderkammern die Reform überhaupt leisten?
Wir sind an die Grenzen gegangen. Es gab manchmal hörbares Zähneknirschen. Alle sind gefordert, werden aber nicht überfordert. Niemand wird auf der Strecke bleiben. Was ist für Sie das Herzstück der Reform?
Die neuen Leistungen. Sie können die Beiträge noch so stark senken, gemessen wird man an den Leistungen – an der Frage, was trägt die WKÖ zukünftig zum Erfolg des Landes, der Betriebe und der Menschen bei. Welche Leistungen meinen Sie konkret?
Neben der Interessensvertretung konkretes Service zur Generierung von zusätzlichem Geschäftserfolg über Chamber-Parship, über digitale Business-Plattformen. Wir führen etwa Auftraggeber und Start ups über Pitchings zusammen. Oder ein ganzheitliches Angebot für die Qualifikation. Oder unsere Bezirksstellen als Promotoren für die regionale Entwicklung. Oder Kooperationen mit dem Massachusetts Institute of Technology und der ETH Zürich. Warum ist die Schweiz so innovativ? Die ETH hat 10.000 Wissenschafts- und Forschungskooperationen weltweit. Davon sollen unsere Mitglieder profitieren. Die Diskussion über die Pflichtmitgliedschaft wurde wieder ausgespart.
Ich war mit einer Wirtschaftsdelegation in Indien. Dort hat ein Mittelständler seine weltweit 13. Filiale eröffnet. Er war zufrieden mit unserer Außenwirtschaftsorganisation, aber er meinte, die Pflichtmitgliedschaft brauche er nicht. Ich habe gekontert, wenn es diese nicht gäbe, hätte er keine 13 Filialen, keine Hilfe im Ausland. Da hat er mir recht gegeben. Als tüchtiger Unternehmer hätte er es vermutlich auch ohne WKÖ geschafft.
Es geht darum, die Unternehmen direkt vor Ort zu bringen. Indien beispielsweise hat ein ganz anderes Rechtssystem. Er wäre allein auf weiter Flur. So profitiert er von unserem Zugang zur Verwaltung und zu den Regierungsstellen. Österreich ist vomEmpfängerlandfür Investitionen zum weltweiten Investor geworden. Wofür braucht der kleine Gewerbetreibende, der nicht exportiert, die Außenwirtschaft?
Er braucht sie indirekt, denn er ist sehr häufig Zulieferer von Exportbetrieben. 60 Prozent unseres Wohlstandes verdienen wir außerhalb Österreichs. Die Kleinen profitieren außerdem vom WIFI. In Ländern ohne Pflichtmitgliedschaft regiert das Prinzip: Wer zahlt, schafft an. Der allgemeine Standort-Aspekt kommt nicht zum Tragen. Bei uns hat jeder seine Vorteile aus der Mitgliedschaft, egal ob er viel oder wenig zahlt. Die Zahl unserer Mitglieder ist seit 1999 um 64 Prozent auf rund 500.000 ge- wachsen. Der Verbraucherpreisindex stieg um 39 Prozent und die Kammerumlagen 1 und 2, aus denen sich die WKÖ finanziert, um zwölf Prozent. Trotzdem, es gibt immer noch zu viele Fachorganisationen.
Sie sind die Heimat der Mitglieder und schließen auch die Kollektivverträge ab. Dann hätten wir etwa statt 700 nur 100 KVs. Schlecht? Bei so vielen Kollektivverträgen kennt sich ohnehin niemand mehr aus.
Je individueller ein Abschluss, desto mehr geht er auf die Bedürfnisse der Branche ein. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich mir nicht mehr oder weniger KVs wünschen, sondern dass in den KVs die betriebliche Ebene stärker berücksichtigt wird. Das aber schmeckt der Gewerkschaft gar nicht. Die Sozialpartner haben nur noch drei Monate Zeit, um sich auf Arbeitszeitflexibilisierung und Mindestlohn zu einigen. Wie zuversichtlich sind Sie noch?
Auch die Regierung hat nur noch drei Monate Zeit für die Entbürokratisierung und die Abschaffung der Mehrfachbestrafungen im Verwaltungsrecht. Ein Beispiel: Einem südsteirischen Betrieb mit 29 Mitarbeitern passierte ein minimaler Fehler in der Lohnverrechnung. Die Gebietskrankenkasse verordnete 153 Euro Nachzahlung. Schätzen Sie, wie hoch die Strafe war? 300 Euro?
11.000 Euro. Sie lenken ab.
Wir haben Übereinstimmung erzielt, dass die Regierung ihre Aufgaben erfüllt und die Sozialpartner ihre Aufgabe. Wir führen Gespräche, aber dazu gehören immer beide Seiten. Die Welt bleibt nicht stehen, wir müssen uns mit bewegen. Wir müssen Vorläufer sein, Nachläufer gewinnen nichts. Pardon, aber die Vorläufer-Rolle der Sozialpartner sehe ich beim besten Willen nicht.
Wenn uns das nicht gelingt, wird es kritisch. Ich sehe die Sozialpartnerschaft als Chance, aber nur, wenn sie zur Lösung der Probleme unserer Zeit einen substanziellen Beitrag leistet. Nochmals, wie zuversichtlich sind Sie? Derzeit schaut es gar nicht gut aus.
Ich bin guten Mutes. Statt eines brutalen Lohnraubes, wie uns die AK vorwirft, mache ich mir Sorgen um den digitalen Jobraub. Es geht nicht mehr um die Wünsche der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer. Heute entscheidet der Konsument. Wenn er nicht rasch und kostengünstig bekommt, was er will, genügt ein Knopfdruck auf eCommerce. Aber eCommerce kostet Jobs. Die Positionen sind einstweilen noch deutlich voneinander entfernt, doch ich bin optimistisch.