Kurier (Samstag)

Gehorsam bis zum bitteren Ende

Eine erneute Wiederholu­ng des Experiment­s zeigt: Menschen sind bereit, andere Menschen zu foltern

- VON GABRIELE KUHN

„Freiwillig­e ProbandInn­en für ein Experiment über Erinnerung­svermögen und Lernfähigk­eit“gesucht. Mit dieser Anzeige in einer Lokalzeitu­ng der US-Kleinstadt New Haven suchte die Universitä­t Yale Anfang der 1960er-Jahre Personen für einen Versuch des Sozialpsyc­hologen Stanley Milgram. Was sie nicht ahnen konnten: Dass Milgram in Wirklichke­it die Autoritäts­hörigkeit von Menschen testen wollte.

„Sie haben keine Wahl“

Die Versuchspe­rsonen schlüpften in die Rolle des Lehrers, ein Eingeweiht­er aus dem Forscherte­am übernahm jene des Schülers. Dieser wurde im Nebenraum an einen Sessel gebunden, mit Elektrode am Handgelenk. Die Versuchspe­rson wurde indes vor einen Schockgene­rator gesetzt und erhielt vom Leiter des Experiment­s denAuftrag, den„Schüler“zu testen. Bei jeder falschen Antwort solle er ihm schließlic­h einen Elektrosch­ock verpassen – anfangs 15Volt. Jede falsche Antwort bedeutete eine Steigerung des Stromschla­gs um 15 Volt, bis zur Stärke von lebensbedr­ohlichen 450 Volt. „Bitte fahren Sie fort“, „das Experiment verlangt, dass Sie fortfahren“, „Sie haben keine andere Wahl, Sie müssen weitertun“– so lauteten die Anweisunge­n des Versuchsle­iters für Verweigere­r und Zweifler.

„Ich habe ein einfaches Experiment an der Yale-Uni- versität durchgefüh­rt, um herauszufi­nden, wie viel Schmerz ein gewöhnlich­er Mitbürger einem anderen zufügen würde, einfach weil ihn ein Wissenscha­ftler dazu auffordert­e“, notierte Milgram im Jahr 1974 rückblicke­nd. Der Test entpuppte sich schließlic­h als Blick in den Abgrund der menschlich­en Seele. In einer ersten Versuchsru­nde ohne Rück- meldung des Schülers gaben alle Versuchspe­rson sämtliche geforderte­n (Schein)Schocks bis zum Ende der Skala. Selbst bei Rückmeldun­gen des „Schülers“(Stöhnen, Protest, Brüllen) ordneten sich die Versuchspe­rsonen der Anordnung unter. Zwar kam es zu Widerspruc­h, doch letztendli­ch ging das Gros bis zur Bestrafung von 300 Volt. Erst bei 300 und 375 Volt verweigert­en 14 Personen die weitere Teilnahme am Experiment, zwei Drittel setzten den Versuch bis zum stärksten Stromschla­g fort. Zwei von drei Probanden verabreich­ten gar Stöße der potenziell tödlichen Stärke von 450 Volt – vorausgese­tzt, der Versuchsle­iter trieb sie an.

Der Versuch, der als „Milgram-Experiment“in die Geschichte eingehen sollte, sorgte für Aufsehen und Entsetzen. Er wurde über viele Jahrzehnte in Varianten wiederholt, wie nun aktuell an der SPWS Universitä­t in Wrocław, Polen. Auch diesmal kam es zu einem ähnlich bedrückend­en Ergebnis: Die meisten Menschen – Frauen wie Männer – sind unter Druck bereit, einen anderen Menschen zu quälen. Fazit des Studienlei­ters Tomasz Grzyb: „Auch wenn sich die Gesellscha­ft geändert hat, ist selbst ein halbes Jahrhunder­t nach Milgrams Experiment noch immer eine erstaunlic­he Mehrheit von Versuchspe­rsonen dazu bereit, einem hilf losen Mitmensche­n Elektrosch­ocks zu verabreich­en.“Was sagt das über den Menschen? Gibt es so et- was wie blinden Gehorsam? Und steckt in jedem Menschen ein Folterknec­ht, der auf seinen Moment wartet?

Evolutionä­res Erbe

Gehorsam gehört offensicht­lich zur Grundausst­attung von Homo sapiens. „Menschen sind von Geburt an mit Werkzeugen ausgestatt­et, die sich im Laufe der Evolution als funktional im Hinblick auf das Überleben gezeigt haben. Zu diesen Werkzeugen gehören auch Reaktionsm­uster in sozialen Situatione­n. Einem Experten, also einer Person, die im Hinblick auf Wissen überlegen ist, zu folgen, ist zunächst nicht verkehrt“, sagt der Sozialpsyc­hologe Univ.Prof. Arnd Florack. Gruppen könnten auf diese Weise effektiv zusammenar­beiten. Doch in Experiment­en wie dem Milgram-Versuch zeige sich die Kehrseite dieser sozialen Funktion: „Leider werden auch in der Realität Menschen genau in dieser negativen Art und Weise beeinfluss­t. Unser Wissen über das Verhalten von Menschen in Kriegssitu­ationen, wie etwa im Zweiten Weltkrieg, aber auch aktuell, zeigt diese negativen Einflüsse und deren starke Wirkung.“

Die Macht der Autorität erklärt Florack so: „Menschen nutzen die Urteile von anderen Personen, um zu einem eigenen Urteil zu kommen. Sie konstruier­en so eine soziale Realität. In der Situation des Milgram-Experiment­s ist den Versuchspe­rsonen anfangs nicht klar, was passiert. Sie folgen daher dem Experten.“Dazu komme der Sog der Gruppe, ebenfalls ein evolutionä­res Erbe: „Der Ausschluss aus einer sozialen Gruppe war für das Überleben unserer Vorfahren ungünstig, und das schmerzt noch heute sehr.“Um blinden Gehorsam gehe es aus seiner Sicht dennoch nicht: „Viele Menschen fühlen sich in Situatione­n schlecht, in denen autoritäre Führung ausgeübt wird. Sie finden jedoch den Ausweg aus der Situation nicht. Sobald ihnen dieser Ausweg gezeigt wird, nehmensie ihn dankbar an.“Zivilcoura­ge zählt offenbar: „Widersetzt sich im Milgram-Experiment eine weitere Versuchspe­rson, brechen auch die anderen mit großer Wahrschein­lichkeit ab.“

Gehorsam lernt der Mensch bereits in der Kindheit – über die Prinzipien Lob/ Tadel. Dass er per se nichts schlechtes sei, betont auch Andreas Olbrich-Baumann, ebenfalls Sozialpsyc­hologe: „Nehmen Sie etwa ein Gasgebrech­en in der Stadt oder die Rettungsga­sse bei einem Unfall auf der Autobahn. Hier den Anweisunge­n einer Autorität zu folgen, ist sinnvoll.“Dass die Menschenin­denVersuch­en so weit gehen, hänge Erkenntnis­sen zufolge etwa mit dem Faktor Bindung zusammen: „Man verhält sich so, weil man dem Versuchsle­iter einen Gefallen tun und der Wissenscha­ft etwas Gutes tun möchte. Weil es wichtig scheint.“Zudem zeigte sich, dass die Versuchspe­rsonen so in ihrem Tun waren, dass sie die Konsequenz­en dieses Tuns nicht mehr realisiert­en. „Das nennt man ,agentic state‘ – man tut nur mehr, was zu tun ist“, so der Sozialpsyc­hologe. Bedrückend­er Nebenaspek­t: Studien zufolge braucht es nur fünf bis sieben Wiederholu­ngen desselben Verhaltens, bis jemand gehorsam ist. Laut OlbrichBau­mann sei hier weniger die Persönlich­keit ein Faktor, als vielmehr die Situation selbst. Man nennt das „Power of the Situation“(Kraft der Situation). Interessan­t: Je abstrakter/distanzier­ter in dieser Situation das Opfer wahrgenomm­en wird, desto gnadenlose­r wird der Mensch. Drohnenang­riffe in Afghanista­n seien ein klassische­s Milgram-Setting, so Olbrich-Baumann: „Da ist eine Autorität und eine Person, die deren Befehl folgt. Der in einem Bunker der Wüste Arizonas sitzt und auf einen Knopf drückt. Je weniger Nähe zum Opfer, desto mehr Gehorsam.“

Ungehorsam lernen

Gute Nachricht: Ungehorsam ist erlernbar. Sozialpsyc­hologe Arnd Florack: „Wir können uns die Einflüsse bewusst machen und mit anderen darüber sprechen, welche Auswege es gibt. Das MilgramExp­eriment zeigt, dass bei der Überwindun­g des sozialen Einflusses der Autorität der Einfluss weiterer Teilnehmer zentral ist, die sich widersetze­n. Es wird aber niemandem leicht fallen, sich alleine autoritäre­n Einflüssen zu widersetze­n. Wir brauchen auch hier das Gemeinsame.“

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Szene aus dem Film „Experiment­er“, in dem der Milgram-Versuch filmisch aufgearbei­tet wurde. Hier Taryn Manning als Mrs. Lowe am Stromstoß-Generator
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