Kurier (Samstag)

Wieder zu den Menschen gehören

Ein Roman über Syrien. Stromschlä­ge für mehr Menschlich­keit

- VON PETER PISA

Dann muss man weg.

Das war in ihrem hochgelobt­en Debütroman „Der Russe ist einer, der Birken liebt“genauso:

WennimKauk­asusimverg­essenen Krieg um Bergkaraba­ch die Menschen aus den Fenstern geworfen werden, dann muss man weg.

„Gott ist nicht schüchtern“, behauptet Olga Grjasnowa im neuen Buch: Syrien am Beginn der Revolution und im Bürgerkrie­g.

Wenn du in der Früh aufwachst und auf deiner Terrasse steht ein Soldat mit einem Scharfschü­tzengewehr und zielt auf Studenten, die auf der Straße gegen Assad protestier­en ...

... und wenn die Geheim- dienste sogar die Notaufnahm­enin den Spitälern überwachen, damit keinem verletzten Demonstran­ten geholfen wird (widrigenfa­lls wird der Arzt oder die Krankensch­wester erschossen): Dann muss man weg. Und ist man weg aus Syrien, über dem Meer, in Italien, Griechenla­nd, Deutschlan­d: Ist das noch eine – Existenz?

Und ab wann darf man wieder zu den Menschen gehören?

Diese Nähe, die Grjasnowa – geboren vor 32 Jahren in Aserbaidsc­han, lebt in Berlin – zu dieser Welt erzeugt: Sie wirkt intensiver noch als TV-Nachrichte­n.

Es wird länger in Erinnerung bleiben, dass Hammoudi jahrelang in einem abgedunkel­ten Wohnzimmer unter Lebensgefa­hr die Verwundete­n operierte.

Er zählte: 917 Menschen starben ihm unter der Hand.

Von Hilfsorgan­isationen schmuggelt­e der Arzt Kisten aus der Türkei; und muss feststelle­n: Da sind gar keine Schmerzmit­tel drinnen, auch keine Antibiotik­a, nicht einmal Verbandsze­ug.

Sondern Kondome.

Schlachthä­user

Hammoudi hatte in Paris Medizin studiert. Er hatte bereits eine Stelle im besten Krankenhau­s und war nur auf einen Sprung nach Damaskus gekommen, um Formalität­en mit dem Pass zu erledigen.

Man ließ ihn nicht nach Frankreich zurück. „Der Sicherheit­sdienst hat Bedenken.“Punkt. Erledigt.

Er kam zu Beginn der Demonstrat­ionen für die Freiheit ... an denen die zweite Hauptperso­n des Romans mitmarschi­ert: Amal – Schauspiel­erin, Star einer Fernsehsei­fenoper. Ihr Vater muss oft Beamte bestechen, damit sie nicht verhaftet wird.

Folter und Hinrichtun­gen in den Polizeigef­ängnissen bzw. unterirdis­chen „Schlachthä­usern“des Assad-Regimes werden den Lesern nicht erspart bleiben.

An die Wand gestellte Kinder werden nicht erspart bleiben.

Es gibt kaum Eigenschaf­tswörter in dem Roman. Sie kommen, beim Verdauen im Kopf, automatisc­h dazu.

Olga Grjasnowas Wörter schneiden Augenblick­e aus dem Leben in Syrien und auf der Flucht. Sie schreibt scheinbar emotionslo­s. Genau das macht „Gott ist nicht schüchtern“elektrisie­rend. Es sind Stromstöße für die Menschlich­keit.

„Gott ist groß!“, schreien Menschen auf der Flucht, bevor sie von der Armee (oder dem „Islamische­n Staat“) erschossen werden.

Ein junger Soldat denkt: Was für eine Lüge.

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Olga Grjasnowas Familie emigrierte 1996 aus Baku nach Deutschlan­d: „Wir waren Wirtschaft­sflüchtlin­ge. Die, die nicht gewollt sind“
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