Auch Konzept ist Kunst
Vor genau 100 Jahren sorgte ein signiertes Urinal für einen Eklat
Exakt 100 Jahre ist es her, da reichte jemand zur Jahresausstellung der Society of Independent Artists in New York ein Pissoir ein. Die Statuten sahen vor, dass jeder Künstler jedes Werk präsentieren durfte, solange die Teilnahmegebühren bezahlt waren. Trotzdem lehnte die Jury das Werk ab, denn es sei zu vulgär und – abgesehen von der Signatur „R. Mutt“– nicht von einem Künstler geschaffen. Diese Zensur führte zu einer Debatte über das, was Kunst ist oder sein kann, und sie machte Marcel Duchamp schlagartig berühmt.
Das Urinal löste in der Folge immer wieder hitzige Diskussionen und auch Aggressionen aus. Pierre Pinoncelli, ein französischer Aktionskünstler, pinkelte 1993 in Nîmes in das auf einem Podest liegende Objekt. Der Befreiungsstrahl hatte Folgen: eine Geldstrafe in der Höhe von 45.000 Euro. Von Reue aber keine Spur: 2006 versuchte Pinoncelli das Readymade während einer „Dada“Retrospektive im Centre Pompidou von Paris mit einem Hammer zu zerstören. Pinoncelli kam vor Gericht.
Doch das Urinal, auf das er es abgesehen hatte, ist bloß eine Replik, die Autorenschaft von Duchamp nicht gesichert. Und eigentlich hätte bereits dessen „Flaschentrockner“die Grundsatzdebatte auslösen müssen.
Der Flaschentrockner
Marcel Duchamp, 1887 in Blainville-Crevon bei Rouen geboren, hatte bereits mit 15 Jahren zu malen begonnen – im impressionistischen Stil. 1914 kaufte er im Pariser Warenhaus Bazar de l’Hôtel-deVille einen industriell gefertigten Flaschentrockner aus Eisen, er signierte ihn und er- klärte das gefundene Objekt zur Kunst. Denn bereits die Auswahl eines Gegenstandes sei ein künstlerischer Akt.
Im Jahr darauf zog der Wegbereiter von Dadaismus und Konzeptkunst nach New York. Zwei Tage, nachdem das Pissoir von der Jury abgelehnt worden war, schrieb Duchamp an seine Schwester Suzanne: „Eine meiner Freundinnen reichte unter einem Pseudonym, Richard Mutt, ein Porzellanurinal als Skulptur ein“. Diese Passage wurde erst 1982 bekannt – 14 Jahre nach Duchamps Tod.
Das Original-Pissoir – es handelte sich dabei um das Standardmodell „Bedfordshire“der New Yorker Firma J. L. Mott Iron Works – ging verloren (wie auch der ursprüngliche Flaschentrockner): Überlebt hat lediglich ein Foto von Alfred Stieglitz, der das Urinal nach dem Eklat in seiner New Yorker Galerie 291 ausgestellte.
Erst viel später gab Duchamp der Arbeit den Titel „Fountain“– und er fertigte mehrfach (darunter 1950, 1953, 1963 und 1964 ) Repliken an, die sich heute welt- weit in den Sammlungen großer Museen befinden. Sie weichen in Form, Signatur und Abmessungen voneinander ab. Duchamp kam es dabei nicht auf die exakte Nachbildung an, sondern vielmehr auf die Idee, das Konzept.
In der Nacht auf den 2. Oktober 1968 starb der Künstler nach einem fröhlichen Abend in Neuilly. Den Text für seine Grabinschrift hatte er selbst entworfen: „Im Übrigen sind es immer die anderen, die sterben.“Seine revolutionären Ideen leben weiter – vielfach kopiert bis heute.