Kurier (Samstag)

Auch Konzept ist Kunst

Vor genau 100 Jahren sorgte ein signiertes Urinal für einen Eklat

- VON THOMAS TRENKLER

Exakt 100 Jahre ist es her, da reichte jemand zur Jahresauss­tellung der Society of Independen­t Artists in New York ein Pissoir ein. Die Statuten sahen vor, dass jeder Künstler jedes Werk präsentier­en durfte, solange die Teilnahmeg­ebühren bezahlt waren. Trotzdem lehnte die Jury das Werk ab, denn es sei zu vulgär und – abgesehen von der Signatur „R. Mutt“– nicht von einem Künstler geschaffen. Diese Zensur führte zu einer Debatte über das, was Kunst ist oder sein kann, und sie machte Marcel Duchamp schlagarti­g berühmt.

Das Urinal löste in der Folge immer wieder hitzige Diskussion­en und auch Aggression­en aus. Pierre Pinoncelli, ein französisc­her Aktionskün­stler, pinkelte 1993 in Nîmes in das auf einem Podest liegende Objekt. Der Befreiungs­strahl hatte Folgen: eine Geldstrafe in der Höhe von 45.000 Euro. Von Reue aber keine Spur: 2006 versuchte Pinoncelli das Readymade während einer „Dada“Retrospekt­ive im Centre Pompidou von Paris mit einem Hammer zu zerstören. Pinoncelli kam vor Gericht.

Doch das Urinal, auf das er es abgesehen hatte, ist bloß eine Replik, die Autorensch­aft von Duchamp nicht gesichert. Und eigentlich hätte bereits dessen „Flaschentr­ockner“die Grundsatzd­ebatte auslösen müssen.

Der Flaschentr­ockner

Marcel Duchamp, 1887 in Blainville-Crevon bei Rouen geboren, hatte bereits mit 15 Jahren zu malen begonnen – im impression­istischen Stil. 1914 kaufte er im Pariser Warenhaus Bazar de l’Hôtel-deVille einen industriel­l gefertigte­n Flaschentr­ockner aus Eisen, er signierte ihn und er- klärte das gefundene Objekt zur Kunst. Denn bereits die Auswahl eines Gegenstand­es sei ein künstleris­cher Akt.

Im Jahr darauf zog der Wegbereite­r von Dadaismus und Konzeptkun­st nach New York. Zwei Tage, nachdem das Pissoir von der Jury abgelehnt worden war, schrieb Duchamp an seine Schwester Suzanne: „Eine meiner Freundinne­n reichte unter einem Pseudonym, Richard Mutt, ein Porzellanu­rinal als Skulptur ein“. Diese Passage wurde erst 1982 bekannt – 14 Jahre nach Duchamps Tod.

Das Original-Pissoir – es handelte sich dabei um das Standardmo­dell „Bedfordshi­re“der New Yorker Firma J. L. Mott Iron Works – ging verloren (wie auch der ursprüngli­che Flaschentr­ockner): Überlebt hat lediglich ein Foto von Alfred Stieglitz, der das Urinal nach dem Eklat in seiner New Yorker Galerie 291 ausgestell­te.

Erst viel später gab Duchamp der Arbeit den Titel „Fountain“– und er fertigte mehrfach (darunter 1950, 1953, 1963 und 1964 ) Repliken an, die sich heute welt- weit in den Sammlungen großer Museen befinden. Sie weichen in Form, Signatur und Abmessunge­n voneinande­r ab. Duchamp kam es dabei nicht auf die exakte Nachbildun­g an, sondern vielmehr auf die Idee, das Konzept.

In der Nacht auf den 2. Oktober 1968 starb der Künstler nach einem fröhlichen Abend in Neuilly. Den Text für seine Grabinschr­ift hatte er selbst entworfen: „Im Übrigen sind es immer die anderen, die sterben.“Seine revolution­ären Ideen leben weiter – vielfach kopiert bis heute.

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Foto des Original-Urinals aus 1917 (l.); der Belvedere-Weihnachts­baum 2016 von Christoph Meier und Salvatore Viviano: Hommage an Marcel Duchamp
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