Kurier (Samstag)

Begegnung mit Armer-Wurm-ich

Die Arbeitsmig­ranten von den Karibikins­eln reden erstmals Deutsch Bücher

- VON PETER PISA

The Lonely Londoners“ist berühmte englische Literatur, 1956 erstmals veröffentl­icht und erst jetzt übersetzt worden: „Die Taugenicht­se“... Der Journalist Samuel Selvon – selbst 1950 aus den Tropen nach London gekommen – hat von den Männern der Commonweal­th-Inseln Jamaika, Bahamas, Barbados etc. erzählt, die nach ihrer langen Schiffsrei­se auf dem Bahnhof Waterloo Station gestanden sind:

Wo kann ich wohnen? Wo gibt’s Arbeit? Wieso kosten die Zigaretten hier so viel?

Selvon hat versucht, ihnen ihre eigene Sprache zu geben, karibische­s Englisch irgendwie.

Verspucken

Auf Deutsch bekommt man eine Ahnung – nein, mehr als eine Ahnung davon, wie das klingen mag. Beispiele:

Viele Migranten sehen nach Armer-Wurm-ich aus.

Heutzutage muss in England nur ein Mokka was Dummes machen, dass sie gleich alle runterrede­n.

Schmarotze­r verspucken uns die Suppe.

Aber wir zwei beide, wir schaffen das. (Ende.) Dank an die preisgekrö­nte Übersetzer­in Miriam Man- delkow in Hamburg. Bei manchen Formulieru­ngen wird man vielleicht an Wolf Haas’ Brenner-Krimis denken.

1948 wurden Bewohner der Westindisc­hen Inseln von der Labour Regierung als billige Arbeitskrä­fte herbeigelo­ckt und willkommen geheißen.

Die Romanfigur Moses ist als früher Zuwanderer aus Trinidad gekommen. Gleich nach der Vorhut aus Jamaika, 493 Arbeitsmig­ranten der „Generation Windrush“. „Windrush“hieß das Schiff, das sie brachte.

Neulinge nimmt Moses, weil er von Bekannten in der alten Heimat darum gebeten wird, oft in Empfang und hilft ihnen, sich im Alltag zurechtzuf­inden.

Er ist der Einzige, der zwar einen Job hat, aber den Optimismus, den hat man ihm ausgetrieb­en: Schon 1951, als die Tories regierten und Churchills zweite Amtszeit begann, nahm die Fremdenfei­ndlichkeit der Briten zu.

Moses erkannte, dass er gar kein erwünschte­r Londoner ist, sondern bloß ein geduldeter (und beschimpft­er).

„Taugenicht­se“gibt es zwar sehr wohl imBuch, denn es wird ein buntes Bild geboten: voller Migranten, die auf keinen roten Teppich warteten, sondern anpackten.

Und solcher, die sich einiges einfallen lassen, um den Staat „anzusaugen“.

Vermischt

Es sind Episoden, die diesen Roman ausmachen. Geschichte­n von Moses, Sir Galahad, Cap, Bart, Lewis ...

Einer schnorrt vom anderen. Niemand gibt freiwillig etwas zurück.

Tragikomis­che Geschichte­n sind es – wie jene von der ersten Bekanntsch­aft mit dem Arbeitsamt.

Der eben in London eingetroff­ene Sir Galahad, so goschert war er, ist fix und fertig: Die Atmosphäre überforder­t den jungen Mann – „die ist so dicht, da muss man sich eine Minute an die Wand lehnen.“

Ein Ort ist das, „wo Hass und Ekel und Habgier und Bosheit und Verständni­s und Sorge und Mitleid, wo das alles sich vermischt.“

Samuel Selvon war 33, als er diesen Roman, seinen größten Erfolg, schrieb. Alt genug, um Moses Kluges sagen zu lassen:

„Wir leben alle zum Sterben, egal, was wir machen, so lange wir leben ...“

 ??  ?? Primo Levi kehrte als einer von 14 der 650 Italiener im KZ Auschwitz III in die Heimat zurück
Primo Levi kehrte als einer von 14 der 650 Italiener im KZ Auschwitz III in die Heimat zurück
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Einwandere­r aus Trinidad: Samuel Selvon
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