DEUTSCHLAND TRAUERT
Er regierte Deutschland 16Jahre lang undschrieb durch die Wiedervereinigung Geschichte
Helmut Kohl ist tot. Der Altkanzler starb Freitagmorgen in Ludwigshafen im Alter von 87 Jahren. Kohl war von 1982 bis 1998 Bundeskanzler. In Deutschland gilt er als der Motor der Wiedervereinigung, die im Oktober 1990 vollzogen wurde.
Dresden, fünf Wochen nach dem Mauerfall: Eine begeisterte Menge jubelt Bundeskanzler Helmut Kohls Rede zu: „Wir sind ein Volk“. Kohl in seinen Memoiren: „Da war mir mit Tränen in den Augen erstmals klar, dass an der raschen Wiedervereinigung kein Weg vorbeiführte.“
Er nahm sie entschlossen in Angriff, was ihm mehr als die längste Amtszeit aller Bundeskanzler den Rang in der Geschichte sicherte. Der Weg war aber schwer, weil in einer politisch viel polarisierteren Republik als heute.
„Birne darf nicht Kanzler werden“, titelte am Wahltag 1983 der Spiegel, damals Speerspitze der sich als fortschrittlich sehenden Medien. Für Linksintellektuelle war Kohl das meist belächelte, öfter aber mit solch undemokratischen Mitteln bekämpfte Feindbild des spießigen, nationalen Bürgertums und der Wirtschaftselite.
Doch die Mehrheit der Bürger ließ sich von diesen Kampagnen nicht abhalten: Kohl legitimierte an dem Tag seine Kanzlerschaft, die er zuvor mit dem Koalitionswechsel der FDPvonderSPDzuseiner Union errungen hatte. Er behielt sie länger als jeder andere in der Bundesrepublik: 16 Jahre, bis Herbst 1998.
Dabei waren seine ersten Kanzler-Jahre geprägt von kontroverser Politik: Kohl brachte den von den SPD-Vorgängern angehäuften Schuldenberg mit hartem Sparen unter Kontrolle. Und er hielt gegen heftigste linke Proteste an der starken Westbindung Deutschlands fest.
Winziges Zeitfenster
Das machte sich 1989 bezahlt: Die Auflösung der Sowjetunion und der DDR-Diktatur schuf ein einmaliges Zeitfenster für die Wiedervereinigung. Kohl hatte die nie aus den Augen verloren. Dazu musste er aber das tiefe Misstrauen gegen ein wiedererstarkendes Deutschland in London, Paris und Rom bändigen. Den ebenso zähen Widerstand von SPD (Parteichef Hans-Jochen Vogel: „Wir wollen kein Viertes Reich“) und Grünen ignorierte er.
Und Kohl gelang das scheinbar Unmögliche – die Einheit des 1945 geteilten Deutschland. Noch dazu unter den Bedingungen der Bundesrepublik, also mit So- zialer Marktwirtschaft und dem Verbleib im Westbündnis NATO. Mit starkem persönlichem Vertrauen trotzte Kohl Michail Gorbatschow und den anderen Staatschefs der Siegermächte die Einheit ab.
Seine stärksten Helfer in diesen auch für ihn persönlich extremen Monaten waren US-Präsident George Bush Senior, der Wille unddie Disziplin der Ostdeutschen – und die harte D-Mark.
Kohl nutzte das Symbol westdeutscher Souveränität und Kraft für die Vereinigung: Der raschere Ersatz der MarkdurchdenEurowar, wie 2010 vom Spiegel aufgedeckt und heute weitgehend Konsens in Berlin und Paris, die Bedingung von Frankreichs Präsidenten François Mitterrand. Kohls kluge Berater warnten vergeblich vor der Aufweichung der Währung ohne deutsche Dominanz in der EZB, seine Minister kümmerte das nicht. Damit wurde die krisenanfällige Konstruktion des Euro auch ein Erbe Kohls an die Deutschen – und seine Nachfolger im Amt. Kohl aber war das Fundament für eine neue, dauerhafte Friedensordnung in Europa wichtiger. Der Erfolg wird inzwischen auch im linksliberalen Lager anerkannt: SPDVorgänger Helmut Schmidt sprach viel später von einer „Glanzleistung“. Nur Grüne und Altlinke tun Kohl noch als Krisengewinner in der Gunst der Stunde ab.
Österreich-Freund
Doch schon als Jugendlicher in Rheinland-Pfalz, geprägt von der Nähe zu Frankreich und den Schrecken des Krieges, war Kohls Fernziel der Friede gewesen. Der studierte Historiker war dabei auch der größte Freund Österreichs unter den deutschen Kanzlern, dessen historische Rolle er oft betonte.
Dabei polarisierte der konservative Instinktpolitiker lustvoll selbst. Zusammen mit eiserner Disziplin machte ihn das früh zum Machtmenschen, der seine CDU detailbesessen unglaubliche 25 Jahre als Parteichef führte.
Aufstieg und Machterhalt verdankte er auch gezielter Unterschätzung: Seine intellektuelle Kapazität versteckte er hinter scheinbar provinzieller Biederkeit und Schlauheit. Das machte Kohl in der Beurteilung vieler Zeitgenossen kleiner als er war.
Die Wiedervereinigung entpuppte sich aber wegen des auch materiellen Bankrotts des Sozialismus als viel teurer als befürchtet. Und sie rückte die Republik nach links. Weil Kohl zugleich den Aufbau eines Nachfolgers blockierte, wurden er und die Union 1998 abgewählt. Sein späteres Eingeständnis der Annahme un- deklarierter Parteispenden ohne die Quellen je zu nennen („Ehrenwort“), stürzte Kohl wieder in die Tiefen der Tagespolitik. Dass aus dieser Mega-Krise der CDU bald Angela Merkel als Parteichefin und danach als Kanzlerin hervorging, war indirekt auch sein Werk: Er hatte „mein Mädchen“instinktsicher aus dem ostdeutschen Umbruch geholt und gefördert.
Merkel lebt einen Teil seines Stils weiter: Unglamourös bei intellektueller Brillanz, Stimmungen des Volkes besser wahrnehmend als viele Parteifreunde, schwere Entscheidungen aussitzend.
Vereinsamung
Für das maximale Auskosten seiner Macht zahlte Kohl einen hohen Preis: Familiäre Vereinsamung, die im krankheitsbedingten Freitod seiner ersten Frau Hannelore kulminierte. Von der Entfremdung seiner Söhne animiert, machten ihn linke Medien selbst da noch mitverantwortlich.
In den letzten Jahren lebte er sehr zurückgezogen: Ein Treppensturz 2008 ließ ihn schwerst geh- und sprechbehindert zurück. Seine zweite Frau Maike RichterKohl betreute ihn intensiv, isolierte ihn aber auch von alten Weggefährten.
Doch viele Gegner machten ohnehin ihren Frieden mit ihm. Spiegel- Ex-Chefredakteur Stefan Aust: „Wir verstanden uns als Kampfinstrument. Kohl hat an der richtigen Stelle das Richtige getan.“Das wussten die meisten Deutschen schon früher. Ihr größter Staatsmann starb nach schwerer Krankheit gestern im 87. Lebensjahr in seinem Haus in Ludwigshafen.