Nackte Haut schockiert noch
Freizügig. Aktivisten lassen für Events die Hüllen fallen – warum die Entblößung noch immer für Aufsehen sorgt
Aktivisten lassen für Events die Hüllen fallen – warum der Nackt-Protest noch funktioniert .
In der Hauptstadt brechen nackte Zeiten an – zumindest ein Wochenende lang. Nein, die neue Freikörperkultur hat ausnahmsweise nichts mit der berühmten Stadthitze zu tun (der Hochsommer macht vorerst ein paar Tage Pause). Viel mehr sind es Events mit gesellschaftspolitischem Hintergrund, die die Menschen reihenweise zum Ausziehen verführen: Heute, Samstag, demonstrieren am Ring hunderttausend Teilnehmer bei der Regenbogenparade in schriller (Nicht-) Montur für Gleichberechtigung; gestern radelten ÖkoAktivisten textilfrei von der Innenstadt Richtung Donauinsel, um die Gefahren für Radler im Straßenverkehr aufzuzeigen (siehe rechts).
Die Botschaften mögen unterschiedlich sein, das Mittel zum Zweck ist gleich: Nackte Haut wird als Form von Protest eingesetzt. Neuist dieses Phänomen nicht, sagt die Theaterwissenschaftlerin Ulrike Traub, die ihre Dissertation über Nacktheit auf der Bühne verfasst hat: „In den späten Sechzigern wurde nackte Haut auf der Bühne verwendet, umgegendie rigide Sexualmoral der Elterngeneration nach dem Zweiten Weltkrieg zu protestieren. Ich würde sagen, ab diesem Zeitpunkt war ein Damm gebrochen und Nacktheit wurde vermehrt eingesetzt.“
Verstörungspotenzial
Einen vorläufigen Höhepunkt des Nackt-Protests lieferten vor einigen Jahren die Aktivistinnen der Gruppe Femen, die lautstark und mit entblößten Brüsten für den Feminismus eintraten. Nun, da im Fernsehen zur besten Sendezeit Genitalien präsentiert werden (wie in der neuen Kuppelshow „Naked At- traction“) und jeder Zugang zu Pornografie hat, stellt sich die Frage: Hat nackte Haut fernab des eigenen Schlafzimmers überhaupt noch Erregungspotenzial – geschweige denn die Macht, gesellschaftspolitische Diskurse anzustoßen?
Die Wiener zumindest scheint die Sperre des Rings mehr zu echauffieren als ein paar nackige Nippel. „Angesichts der Allgegenwärtigkeit von Nackten auf Plakatwänden usw. sollte man meinen, dass uns das heute nicht mehr schockiert“, sagt Traub. „Allerdings sind dies Körper, die den geltenden ästhetischen Normen entsprechen und mit Photoshop noch perfekter gemacht worden
Ulrike Traum Theaterwissenschaftlerin sind. AndieStelle des nackten Körpers ist das Gebot der Schönheit getreten.“Heißt: Nackt ist okay, aber bitte makellos. Da der mit Cellulite, Narben und Falten gespickte Durchschnittskörper in der Regel mit der Norm bricht, kann er sehr wohl verstören.
Ein echter „Schocker“seien Körper, die dem jeweiligen Schönheitsideal widersprechen, sagt Traub: „Sehr di- cke Körper, unrasierte Achseln. Zudem wirken bewegte nackte Körper verstörender als solche auf Plakaten.“
„Nackte Körper sind dann ein Tabu, wenn sie dem jeweiligen Schönheitsideal widersprechen.“
Aufmerksamkeit
Trotz allem: Nacktheit wirkt, immer noch. „Wir brauchen das Interesse der Medien, um gehört zu werden und etwas verändern zu können“, begründete Femen-Mitglied Anna Hutsol gegenüber der Zeit einst ihren vollen Körpereinsatz. Auch die Botschaft der Wiener Nacktradler würde wohl kaum jemand mitbekommen, trügen sie bei ihrer Mission Trikot und Hose. „Der nackte Körper in der Öffentlichkeit verstört den Blick und erregt Aufmerksamkeit“, stellt Ulrike Traub klar. Mit erotischer Lust habe das nichts zu tun, erklärt die Sexualpsychologin Daniela Renn: „Da kommt eher unsere voyeuristische Seite zum Vorschein. Das ist aber kein Voyeurismus zum Zwecke der sexuellen Erregung, sondern Neugierde: Wie schauen andere nackt aus?“
Übrigens: Das Prinzip „Schock durch Nacktheit“funktioniert auch in die andere Richtung. Das in die Jahre gekommene Herrenmagazin Playboy hatte selten so viel Medienpräsenz wie an jenem Tag, als es verkündete, künftig auf nackte Models verzichten zu wollen. Nicht einmal dann, als es diesen Vorsatz kurze Zeit später wieder über den Haufen warf.