Kurier (Samstag)

So schreibt man Chaos, so wurde es zur Barbarei

BÜCHER Antikriegs­roman. Dafür wurde der russische Dichter Artjom Wesjoly unter Stalin zum Tod verurteilt.

- VON PETER PISA

Jahrzehnte­lang stand in dem Roman über Russland, die Oktoberrev­olution und den Bürgerkrie­g – wenn überhaupt etwas stand, denn zeitweise war er verboten:

„In ganz Russland sitzen jetzt die Bolschewik­en oben, und das, mein Lieber, das sind Leute ...“

Dass der Satz damit nicht zu Ende war, durfte man erst Ende der 1980er lesen:

„ ... das sind Leute, mit der einen Hand zeigen sie Dir n Kuchen und mit der andern haun sie Dir eins aufs Maul.“

Hingericht­et

„Blut und Feuer“heißt der Antikriegs­roman von Artjom Wesjoly in der ergänzten Neuausgabe. (Im vergriffen­en Buch von 1987 hatte er den Titel „Russland in Blut ge- waschen“.) Jüngst entdeckte man weitere Textpassag­en, die zensuriert worden waren.

Wesjoly kämpfte als 19Jähriger selbst im Bürgerkrie­g. Er wurde Rotarmist, um der Armut – zwölf seiner 14 Geschwiste­r starben – zu entkommen. Aber schnell wurde ihm klar: Barbarei ist nicht der richtige Weg, um ans Licht zu gelangen.

„Blut und Feuer“erschien in der Sowjetunio­n erstmals 1932; und verschwand unter Stalin – wie auch Wesjoly verschwand. Seine Töchter haben bis Ende der 1980er-Jahre geglaubt, ihr Vater sei nach seiner Verhaftung an Lungenentz­ündung gestorben.

Hingericht­et wurde er 1938, 38 Jahre alt.

Etüden

Über sein rhythmisch­es, wildes Erzählen im eigenwilli­gen Jargon heißt es, man höre die Musik der Revolution, man spüre den Sturm, der jene Menschen verschling­t, die er befreien wollte ... Bei solchem Lob neigt man zur Abwehrhalt­ung: Wenn hier jemand übertreibt, dann ausschließ­lich man selbst!

Aber es stimmt. Artjom Wesjoly, der Einzige seiner Familie, der Schreiben und Lesen lernen durfte, war ein Dichter.

Das ist Dichtung mit wenig durchgehen­der Handlung; Verdichtun­g des Terrors durch die Roten und die Weißen.

Anstrengen­d? Ja, gut so, selbstvers­tändlich ein bisschen, weil jede Zeile mehr ist als ein paar Buchstaben. Chaos herrscht, und dazwischen sind „Etüden“– wie Wesjoly sie bescheiden nannte. Kleine Meisterwer­ke, zarte Geschichte­n als Kontrast.

Jemand schreit: „Antreten, ihr Armleuchte­r!“

Nein. Nie mehr.

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Artjom Wesjoly als Rotarmist, am 7. Juni 1918
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