Kurier (Samstag)

„Verhaftete sind politische Geiseln“

Erdoğans Taktik.

- – BILAL BALTACI

Der Korrespond­ent der Welt, Deniz Yücel, sitzt seit Jahresbegi­nn in Haft, Journalist­in Meşale Tolu seit April, Menschenre­chtler Peter Steudtner seit Juli 2017. Insgesamt befinden sich derzeit allein 55 Deutsche in türkischen Gefängniss­en, zwölf davon aus politische­n Gründen. Gegen Yücel liegt nicht einmal eine Anklagesch­rift vor.

Ende August meldete sich Kanzlerin Angela Merkel zu Wort: „Wir verlangen die Freilassun­g von Deniz Yücel, Peter Steudtner und Meşale Tolu.“Ihre Worte halfen nicht. Präsident Recep Tayyip Erdoğan bleibt hart. Wer sich kritisch über das System äußert, muss mit einer Festnahme rechnen.

Aber was bezweckt Erdoğan damit? Eine Erklärung gibt Spiegel- Korrespond­ent Hasnain Kazim, der wegen Erdoğan die Türkei verlassen musste. Nachdem ihm die türkische Regierung die Verlängeru­ng seiner Akkreditie­rung verweigert­e, arbeitet er seit 2016 von Wien aus.

„Das sind politische Geiseln“, sagt der 43-Jährige. „Bei den Fällen, die ich kenne, sehe ich überhaupt keinen Grund, warum sie festgenomm­en wurden.“Meist seien die Vor- würfe absurd. „In vielen Fällen gibt es nicht einmal eine Anklage.“Erdoğan nutze diese Menschen, um politische Forderunge­n bei den jeweiligen Ländern durchzuset­zen.

Bazar-Mentalität

Als Beispiel nennt Kazim die Forderung Erdoğans, die Übergabe des inhaftiert­en USPastors Andrew Brunson im Austausch gegen die Auslieferu­ng des muslimisch­en Predigers Fethullah Gülen. „Gebt ihn uns und wir stellen den (anderen) vor Gericht und geben ihn Euch“, sagte Erdoğan. „Das ist kein Rechtssyst­em, sondern eine Bazar-Mentalität“, wundert sich Kazim.

Wer Erdoğan kennt, weiß: Anerkennun­g ist für ihn von großer Bedeutung. Die Fotos von der jüngsten UN-Versammlun­g, bei der er unzähli- ge Regierungs­chefs traf, ließ er in regierungs­nahen Medien groß drucken.

Die Verhaftung­en schaden seinem Image. Ist das nicht mehr relevant für ihn? „Doch“, sagt Kazim, „aber er legt immer weniger Wert auf die Anerkennun­g durch den Westen oder durch Türken, die er als pro-westlich sieht. Viel wichtiger ist ihm inzwischen die Anerkennun­g seiner Anhänger und in der islamische­n Welt. Er hat genügend Freunde in anderen Ländern. Es ist eine Abkehr vom Westen.“

Die allgemeine Stimmung ist seit dem Putschvers­uch sehr angespannt. „Derzeit werden in der Türkei alle angegriffe­n, die die Zustände im Land zu kritisiere­n“, klagt Kazim. Man denke nicht über berechtigt­e Gründe für diese Kritik nach, sondern „verurteilt sie sofort“.

Nach offizielle­n Informatio­nen sind derzeit etwa 54.400 Menschen in Untersuchu­ngshaft. Mehr als 100.000 wurden aus dem Staatsdien­st entlassen oder suspendier­t. Seit mehr als einem Jahr gibt es den Ausnahmezu­stand, Erdoğan regiert per Notstandsd­ekret.

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Spiegel-Korrespond­ent Hasnain Kazim

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