Kurier (Samstag)

„Das Floß der Medusa“bei Wien Modern: Rückschau auf die einstige Avantgarde

- – PETER JAROLIN

Kritik. Schreiduel­le, Schlägerei­en, ein Polizeiein­satz und eine letztlich geplatzte Uraufführu­ng – Hans Werner Henzes Oratorium „Das Floß der Medusa“kann auf eine bewegte Geschichte zurückblic­ken. Nur was 1968 in einer politische­n sehr aufgeheizt­en Stimmung die Menschen bewegte, muss im Jahr 2017 nicht zwangsläuf­ig ähnliche Reaktionen hervorrufe­n.

Ganz im Gegenteil. Denn zur Eröffnung der 30. Ausgabe des Festivals Wien Modern hielt man im Konzerthau­s eher eine freundlich­e Rückschau auf die einstige Avantgarde und würdigte Henze mit einem sanft dahinfließ­enden „Floß der Medusa“.

Basierend auf den wahren Ereignisse­n schildern Henze und sein Librettist Ernst Schnabel in ihrer musikalisc­hen Parabel die Schiffstra­gödie von 1816, bei der die nach Senegal segelnde Fregatte Medusa auf eine Sandbank lief, die Mächtigen sich danach retteten, während sie die Seeleute auf einem Floß ihrem Schicksal überließen. Einst Signal und Anlass zum Klassenkam­pf; „Ho, Ho, Ho Chi Minh“-Chöre inklusive.

Heute hingegen wirkt das Werk mit seinen Chören, Disharmoni­en, Ruhepausen und Klagen der Toten etwas handzahm. Und das, obwohl Dirigent Cornelius Meister, das sehr gute ORF Radio-Sym- phonieorch­ester Wien, die Wiener Sängerknab­en, der exzellente Arnold Schoenberg Chor sowie die Solisten Dietrich Henschel (Bariton) und Sarah Wegener (Sopran) musikalisc­h meist überzeugte­n, ja eigentlich alles ziemlich richtig machten.

Die von Henze wohl intendiert­e Dringlichk­eit des Ganzen war jedoch am Besten bei Sven-Eric Bechtolf als Sprecher aufgehoben; in seinen stark rhythmisie­rten Erzählpass­agen wurde die humanitäre Katastroph­e, das permanente Ringen um Leben und Tod gut erfahrbar. Und das Publikum dankte allen mit Jubel.

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