Kurier (Samstag)

Der kollektive Gedächtnis­verlust

Verbotene Erinnerung an die 45 Millionen Opfer des „lieben Vorsitzend­en“Mao

- VON PETER PISA

Ein stellenwei­se biblischer Text, in dem Wörter wie Umerziehun­gslager und Ausbeuterk­lasse vorkommen, ist der Roman „Die vier Bücher“.

Spätestens damit wäre – auch – Yan Lianke aus Peking reif für den Nobelpreis. Sein Name stand heuer ganz oben auf der Liste der britischen Buchmacher.

Nach der als „gefühllos“kritisiert­en Akademie-Entscheidu­ng des Jahres 2012 für Mo Yan, der vielen als Staatsschr­iftsteller gilt, hätte Yan Lianke die chinesisch­e Literatur ins Gleichgewi­cht gebracht.

Vertuscht

Der heute 59-Jährige hat sich nie darum gekümmert, ob die Führung mit dem Geschriebe­nen einverstan­den ist. Meistens wurden seine Werke in China sowieso verboten.

Etwa „Der Traum meines Großvaters“(2009) über die armen Bauern in der Provinz Henan, die Blut spendeten ... die Folge: eine Million AidsTote. Der Skandal wurde vertuscht.

Auch „Die vier Bücher“wurde von 20 Verlagen abgelehnt, denn man will ja nicht riskieren, behördlich geschlosse­n zu werden. Selbstvers­tändlich ist auch dieser Roman in Liankes Heimat verboten.

Erinnerung ist ohnehin nur eine Reifenspur im Sand (Copyright, auch wenn’s im Zusammenha­ng mit dem Nobelpreis nicht ganz so gut passt: Rainhard Fendrich).

Bei geliebten Menschen ist das so und wohl auch, was Diktaturen betrifft.

Sonst würden Wahlen in der Welt heute ganz anders ausgehen.

China bemüht sich noch dazu sehr um den kollektive­n Gedächtnis­verlust. Das führt dazu, dass Mao heute noch wie ein Gott verehrt wird ... obwohl der „liebe Vorsitzend­e“zwischen 1958 und 1962 durch die hausgemach­te Hungersnot inkl. Fol- terungen schuld an 45 Millionen Toten ist.

Diese Zahl ist neu, erste Öffnungen der Archive in kleinen Städten für die Wissenscha­ft haben sie ergeben,

Aber Nobelpreis­träger Mo Yan hat in seinen Memoiren die Jahre der „Umerziehun­gslager“kein einziges Mal erwähnt.

Großer Sprung

Lianke hingegen schrieb gleich einen ganzen Roman über die Zeit vom „Großen Sprung nach vorn“mit den größenwahn­sinnigen, ge- scheiterte­n, tödlichen Experiment­en.

Intellektu­elle wurden als sogenannte „Rechtsabwe­ichler“aufs Land gezwungen undsollten dort umzehn, 20-, 30-mal mehr Weizenkörn­er aus dem Boden holen, als es die kundigen Bauern schafften. Riesenmais sollte geerntet werden ...

Die Landwirtsc­haft brach zusammen. Die Menschen brachen zusammen.

Yan Lianke erzählt vom Lager Nr. 99 am Gelben Fluss mit den namenlosen, entmenscht­en Inhaftiert­en – alles Verbrecher, die Etikettier­ung geht ganz schnell, denn lesen war plötzlich ein Verbrechen, Sex war ein Verbrechen ...

Rote Blüten

Der Kommandant scheint sehr jung zu sein, er wird nur „das Kind“genannt, und kindisch ist, was er – was Mao – verkündet: Gehorsame bzw. Denunziant­en bekommen rote Papierblüt­en.

Wer 125 hat, darf zu seiner Familie zurück.

Aber ob nur zehn oder 125 Papierln: Man stirbt.

Yan Lianke gibt den Opfern eine Stimme. Vier Bücher sind es, die den Roman speisen (wie die vier Evangelien). Stilistisc­h sind sie verschiede­n, man liest gewisserma­ßen abwechseln­d Kafka und Bibel.

Und Gott sah, dass das Licht gut war. (Aber es war halt nirgendwo Licht.)

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Eine der 16 großen Illustrati­onen der „Ilias“vom Tiroler Maler und Restaurato­r Anton Christian
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Einer der Weltlitera­ten Chinas: Yan Lianke lebt in Peking
 ??  ?? Yan Lianke: „Die vier Bücher“Übersetzt von Marc Hermann. Eichborn Verlag. 352 Seiten. 24,70 Euro.
Yan Lianke: „Die vier Bücher“Übersetzt von Marc Hermann. Eichborn Verlag. 352 Seiten. 24,70 Euro.
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